Liebe, Sexualität und Sinnlichkeit: Darum geht es im «geheimen Brief» von 1980.

An meine Heissgeliebte

Aus dem Archiv — Eine anonyme Autorin schreibt an ihre Liebhaberin – und fragt sich nach der richtigen Bezeichnung für ihre Sexualität. Ein inniges, immer noch aktuelles Zeitdokument.

Anonym (Text) und Anahí Frank (Einordnung)
1. Oktober 2023

Einleitung von Anahi Frank

Nach drei verwirrt glücklichen Monaten und einer Liebeserkenntnis, weiss die Autorin nicht, wie sie sich nennen soll: Ist sie «schwul», «lesbisch» oder «bisexuell»? Keiner dieser Bezeichnungen behagt ihr, sie will sich nicht über das Objekt ihrer Begierde definieren. Und dennoch stellt sie fest: «Die Augen einer Lesbe sehen die Welt anders». Auf Plakatwänden, Bücherseiten und auf der Strasse, überall begegnen ihr heterosexuelle Pärchen, während sie und ihre Geliebte sich in der Öffentlichkeit nur durch Blicke berühren.

Ähnliche Beobachtungen wie diese anonyme Briefeschreiberin äussert ein zweiseitiger Text über schwule Studenten (illustriert durch das Foto eines nackten Mannes in einer menschengrossen Mausefalle) und eine Doppelseite über Lesben, unmissverständlich durch den grossen Schriftzug «Lesben» gekennzeichnet. Darin wird auch der Besuch in der einzigen Zürcher Lesbenbar geschildert, eine dunkle Stube mit roten Lämpchen auf den Tischen. Hier flirten Frauen mit einer wartenden Zigarette und einem schnell gezückten Feuerzeug. Es sei spielerischer als in der Heterowelt und nicht bedrängend, findet die ZS-Autorin, aber für einige Frauen sei es trotzdem «zviel Verfüere und Rösli und Zigiaazünde und Wottschnoenchampagner…». Zwar wird sich die ZS noch häufig für queere Standpunkte einsetzen, doch diese lebensnahen Berichte bleiben lange Zeit ein Unikat.

An meine Heissgeliebte

Anonym / veröffentlicht am 17. Juni 1983

9. November 1980

... ich habe gemerkt, wie durcheinander ich bin, verwirrt glücklich von den letzten drei Monaten. Jetzt, wo du weg bist, habe ich überhaupt Zeit, es zu merken, und mich in Ruhe umzuschauen, wie die Welt jetzt aussieht. Sie hat sich nämlich verändert, die Welt, meine ich. Alles geht weiter wie bisher, das Uebliche, die Alltage hier.

Aber etwas ist anders, nicht mehr wie früher. Weisst du noch (I'll never forget!) – wie wir nüchtern betrunken auf dem Barhocker sassen? Und das erste Mal wirklich wussten, dass wir ineinander verliebt waren?

Jetzt muss ich manchmal den Kopf schütteln darüber, dass es so lange ging. Dabei ist es eher verwunderlich, dass es so schnell ging, ja, dass es überhaupt ging. Wir sind auf Männer dressiert, es gibt Gefühle, die nur für sie reserviert sind: Herzklopfen, Schmetterlinge im Bauch – this sensations – Frauen sind gute Freundinnen, zum Klönen, Trösten und Getröstetwerden, zum Reden über Gott und die Welt und die Männer, um ins Kino zu gehen, wenn er nicht da ist. Für mich war das schon lange·'anders: mit Frauen wohnen, arbeiten, zusammensein, leben ... wir sind schon weit gegangen.

Sich in eine Frau verlieben, ist nochmals eine Weltreise. Wir werden von Männern angezogen, haben Beziehungen mit Männern, schlafen mit Männern, und wir merken es sofort und ohne wesentliche Zweifel, wenn wir in einen Mann verliebt sind. Und wir sassen auf dem Barhocker und mussten fast lachen, dass wir das doch noch herausgefunden hatten. Und seit da ist dje Welt anders. Blass weil ich so verliebt bin, dass ich über die dreckigen Trottoirs in Zürich schwebe, anstatt auf ihnen zu gehen, und weil wir drei trunkene Monate verliebt haben? ...  ... Dann ist mir im gleichen Zug in den Sinn gekommen, wie lange es gegangen ist, bis wir zum ersten Mal - Liebe machten (diese Sprache!). Sie wollen nicht, dass wir dorthin gelangen, zum schönen, weichen, warmen Körper einer Frau, zu einer Sinnlichkeit, Zärtlichkeit, Erotik, die mit einem Mann gar nicht möglich ist. Ich erinnere mich noch, wie du gesagt hast: «Kein Wunder, dass das verboten ist» - und wir beide lange und laut lachen mussten …

17. November 1980

... Uebrigens weiss ich es jetzt. Weshalb die Welt anders aussieht. Plötzlich ist es mir aufgegangen, als ich in der Stadt an einem Plakat vorbeiging, wo drauf stand: die Augeneiner Lesbe sehen die Welt anders.

Ich merkte plötzlich, dass ich etwas lebe, was es gar nicht gibt, was nicht ist und nicht sein soll. Ueberall: ein Mann und eine Frau, die Liebe. In den Filmen, in den Büchern, in allen Büchern, in den Zeitungen, auf der Strasse, auf den Plakatwänden an der Baustelle auf meinem Heimweg durch die Seestrasse: das muss der Heterror sein, den ich mir nie vorstellen konnte. And that secret life – wir haben zur Genüge bereits erlebt, was es heissen kann, eine Beziehung zu leben, die nicht sein soll, nicht sein darf. Sich krampfhaft voneinander distanzieren in der Oeffentlichkeit, ab und zu ein verstohlener Blick, ein verstohlenes Lächeln. Zusammensein nur zu zweit ...

... und nicht nur du siehst die Welt anders – die Welt sieht auch dich nicht mehr gleich an. Was die nämlich alles von uns denkt:  dass wir Haare auf den Beinen haben, dass wir keinen Mann abbekommen haben, dass wir krank seien, dass wir lieber Männer sein wollten, dass wir uns gierig auf jedes weibliche Wesen stürzten, dass wir blass nicht wissen, wie es mit einem Mann sein kann (und ob!), dass wir eine tiefe Stimme hätten und Zigarren rauchten und Whisky söffen – ich muss feststellen, dass ich eigentlich ganz gleich geblieben bin. Wieviel sich ändert, blass weil wir nicht mehr nur mit Männern schlafen! ...

24. Dezember 1980

... ich bin zuhause, es ist wie immer schrecklich. Ich kam gerade von der Demo und mein Bruder mit seiner Verlobten ...

... das Titelblatt der Emma betrachtend, habe ich mich gefragt, was wir denn wohl seien. Remember, an dem Dienstag haben wir darüber gesprochen. Ich stellte mir den Schock meiner Eltern vor, wenn ich ihnen von dir erzählen würde. Sie würden sich fragen, was sie wohl falsch gemacht hätten, dass ihre einzige Tochter schwul geworden ist. «Schwul!», hast du gesagt und den Kopf geschüttelt, «Pfui!». «Lesbisch!», habe ich gesagt, «Pfui!». «Und das Schlimmste ist: homosexuell!», hast du gesagt. «Nein, das Schlimmste ist: heterosexuell!», habe ich gesagt.

Mich hat es lange nicht interessiert, was ich nun wohl sein könnte. I was feeling good, and that it was. Wir haben es abgelehnt über das so-genannte Objekt unserer Liebe definiert zu werden. I was in love with you. Für mich gibt es diese Kategorien nicht, für mich gibt es nicht homo-, nicht hetero-, nicht a-, noch bi-sexuell ...

27. Januar 1981

... es ist eine neue Lesbenfront herausgekommen, über Sexualität. Das Heft ist vor allem das Feststellen unserer Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit ...

… und überhaupt: du fehlst mir. Ich möchte dich sehen, wie dir ganz unbedacht ein Lachen in den Tag purzelt, ich möchte alle deine verschiedenen Gesichter sehen, dein Vergnügen an der Welt und dein Nasenrümpfen über die Aergerlichkeiten, dein leises Lächeln und deine sprühende Wut.

Ich möchte dich sehen, wie du die Türe aufmachst, oben auf der Treppe stehst und dich freust, dass ich komme. Ich möchte dich sehen, wie du am Morgen ein Auge auftust, um zu schauen, ob es sich lohnt, das zweite auch noch zu öffnen. Ich möchte dich hören, wenn du etwas erzählst, weisst du, manchmal konnte ich gar nicht mehr richtig zuhören, ich folgte nur dem Klang deiner Stimme wie einer Musik.

Du fehlst mir, ich vermisse die langen Gespräche, die Kreise, die wir umeinander zogen, die heftigen Diskussionen, dein aufmerksames Gesicht, wenn du mir zuhörst, . das Gefühl, mich mit jedem Wort verstanden zu fühlen. Ich vermisse die langen Spaziergänge durch die Zürcher Nächte. Ich vermisse deine Vorsicht, die mir soviel Platz lässt, deine Nähe, die nie eng ist.

Mir fehlt unsere Wärme unter der Bettdecke, mir fehlt die Spannung zwischen uns, wenn wir auf dem Bett liegen, ohne uns zu berühren, das Gefühl, dass es knistert, das Wegtauchen, in eine andere Welt, unsere Welt, deine Berührungen, ich vermisse deine Fingerspitzen auf meinem Rücken, deine Lippen auf meinem Hals. Meine Hände sehnen sich nach dir, nach deiner Schönheit, die vertraut ist und mich jedesmal neu fasziniert.

Ich vermisse den Rausch, die Stunden, die wir uns liebten, die langen Nächte bis zum ersten Zwitschern eines Vogels am Morgen. Mir fehlt das Spüren; dass alles stimmt, unausgesprochen alles richtig ist, jede Berührung, jede Bewegung,jedes Wort,jede Geste, jeder Blick,jeder Ton, deine Zärtlichkeit, deine Lust, deine Fantasie, deine Heftigkeit, deine Sanftheit - ich, du, wir.

... zum Glück ist Heterosexualität heilbar. Ich möchte das allen Leuten von Herzen gönnen, dieses Glück zu kennen. And I still miss you ...

26. Februar 1981

I got a new theorie about love! Wanna hear it?

Irgendwann habe ich dir einmal geschrieben, ich würde jeden Mann verstehen, der eine Frau liebt. Dessen bin ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher. Ich habe mich gefragt, ob ein Mann überhaupt eine Frau lieben kann, wo er doch dauernd sieht, hört, merkt und wohl auch denkt: Frauen sind weniger wert. Schwächer. Dümmer. And all that holy hat bullshit.

Männer sind gar.nicht fähig, eine Frau wirklich zu lieben, weil Liebe nur zwischen Gleichen möglich ist. In einer patriarchalischen Gesellschaft sind Frauen und Männer nicht gleich, sie denken anders, fühlen anders, sprechen anders, sie haben eine andere Sexualität, so dass 3 70seitige Bücher mit Beschreibungen, Anweisungen, Tabellen notwendig sind, um aus der Liebe ein Vergnügen zu machen.

Frauen sind gleicher, gleich wert, deshalb sind sie fähig zu wahrer Liebe. Kurz gesagt. Wobei langfristig gesehen, heterosexuelle Beziehungen gesamtgesellschaftlich durchaus sinnvoll sind ...

10. März 1981

... in der Emma hat es einen Artikel über die nicht-erfundene Pille für den Mann. Mir kamen die jahrelangen Püffer mit den Typen und der Verhütung in den Sinn. Wäre an der Zeit, dachte ich mir, endlich einmal die schönste, beste, gesündeste, natürlichste Verhütungsmethode zu propagieren. Nie mehr Angst, schwanger zu werden, keine stimmungsverderbenden Diskussionen im Bett, keine Anstrengungen mehr, sich selber zu behaupten und: keine Nebenwirkungen ...