Hermann Burger studierte zuerst Architektur, dann Germanistik und Kunstgeschichte.

Schreiben Sie, trotz Germanistik?

Aus dem Archiv — Hermann Burger gab im ZS sein literarisches Debüt. Und wies auf ein Kernproblem seines Schaffens hin.

Hermann Burger (Text) und Kai Vogt (Einordnung)
1. Oktober 2023

Einleitung von Kai Vogt

Hermann Burger ist einer der grossen Namen im Schweizer Literaturbetrieb: 1985 erhielt er für sein Werk den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit war er an der ETH als Privatdozent für deutsche Literatur engagiert. Diesen Clinch zwischen literarischem Schaffen und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung beschäftigte Burger bereits als unbekannten Germanistikstudenten – und verfasste darüber den Text «Schreiben Sie, trotz Germanistik?», der 1967 im «Zürcher Student» abgedruckt wurde, neben einigen Gedichten aus dem später erscheinenden Gedichtband «Rauchsignale».

Das literarische Debüt vom damals 25-Jährigen beweist Tiefgang: Wie kann jemand, der die Literaturwelt, sowohl Theorie als auch Geschichte, bestens kennt, nicht davon überzeugt sein, dass «alles Sagbare … schon gesagt» ist? Dieses Hadern beim Schreiben im Wissen der bereits existierenden Literatur, das Suchen also nach der eigenen Stimme, begleitete ihn für den Rest seiner Zeit als Autor.

Schreiben Sie, trotz Germanistik?

Hermann Burger / 4. Juli 1967

Schriftstellerei und Germanistik haben, wie man weiss oder spätestens nach dem peinlichen Zürcher Literaturstreit wissen müsste, wenig miteinander zu tun. Trotzdem wird mir immer wieder mit besorgtem Lächeln die Frage gestellt: Ja, kann man denn noch schreiben neben dem Germanistikstudium?

Sie ist nach der Frage «Wie entsteht ein Gedicht?» weitaus die häufigste, und der Fragende hat auch schon eine Antwort auf der Zunge, die auf bittere Erfahrungen schliessen lässt. Wie die meisten Ratenden rät er sich selbst, und zwar rät er ab: vom Studieren oder vom Schreiben. Fast uneingeschränkt herrscht die Meinung, dass die Tradition einem jungen Autor eher schade als nütze, dass man im Laufe eingehender Beschäftigung mit Literatur­geschichte und Dichtung zur Einsicht kommen müsse, alles Sagbare sei schon gesagt, sei ­endgültig, für alle Zeiten formuliert. Das Traditionsbewusstsein ersticke den Schöpfungstrieb im Keim, wird weiter argumentiert; bestenfalls sei dem Schriftsteller noch eine gut getarnte Nachahmung möglich, ein Eintopfgericht aus verschiedenen Anschauungen und Stilen, ein ästhetisch schillerndes Inzuchtgebilde oder aber der verzweifelte Rückzug ins Schweigen.

Hofmannsthal wird bemüht, vielleicht auch Hesse: die letzten grossen Epigonen unseres Jahrhunderts! Die bedeutenden Dichter hätten alle nichts mit Literatur zu tun gehabt, weder Benn als Geschlechtsarzt, Musil als Ingenieur, Kafka als Jurist noch Trakl als Apotheker, und Goethe habe es bei Gottsched, dem Leipziger Literaturpapst, nicht lange ausgehalten. Dazu ist höchstens zu sagen, dass man auch die entgegengesetzte Meinung, wie überhaupt jede Meinung, mit illustren Beispielen belegen könnte. Indes sind die angemeldeten Bedenken nicht unbegründet. Der schreibende Germanist hat es schwerer als der schreibende Buchhändler oder Jurist oder Chemiker. Da man in den Vorlesungen und Seminarien dazu erzogen wird, das Echte vom Unechten, das Gültige vom Zeitbedingten, das Original von der Nachahmung zu unterscheiden, da man sich vorwiegend mit vollendeten Meisterwerken herumschlägt, kommt einem allmählich der naive, unkritische Blick abhanden.

Das Schöne ist nicht bloss einfach schön, es ist schön, weil. Das Gute ist gut, weil. Und insbesondere wird man hellhörig für alles, was schon einmal gesagt wurde. Die beliebte Einschränkung einem modernen Gedicht gegen­über: das gab es schon bei Rilke, dies hat schon Novalis erfunden, ist bekannt. Wer z. B. Paul Brenner liest, wird auf Benn verweisen, der Kritiker von Benns «magischen Reimen» auf die Romantik; ein Leser von Werner Zemps Gedichten führt sogleich Mörike und Trakl an, Frisch ist ohne Brecht und Zollinger nicht denkbar usw. Ich sage nicht, dass dies illegitim sei, es gehört ja gerade zur Aufgabe und Tugend des Historikers, Zusammenhänge aufzudecken, Querverbindungen herzustellen. Wenn aber der Schreibende, der zugleich Literaturwissenschaftler ist, nach solchen Kriterien an eine Aufgabe herantritt, steht er sich selber im Weg, besser: der Historiker stellt dem Künstler das Bein. Er weiss zu viel, um, wie man so schön sagt, «ursprünglich zu sein»; der Schöpfungs­prozess ist zu bewusst, als dass er noch vollzogen werden könnte. Es besteht die grosse Gefahr, dass man sein Produkt analysiert und kritisiert, bevor es entstanden ist, dass man interpretiert und einstuft und darüber die Darstellung vernachlässigt oder gar vergisst. Wie entgeht man dieser Falle?

Natürlich würde es kein Schriftsteller lange bei Staiger aushalten, sollte er nach seinen «Grundbegriffen» oder den «Meisterwerken deutscher Sprache» ein Gedicht schreiben. Nun gerade das Meisterwerk, das im Brennpunkt germanistischen Interesses stehen mag, muss ihm, um es überspitzt zu sagen, gleichgültig sein. Während der Interpret das Spitzenprodukt verehrt, darf der Dichter zunächst einmal nur an sich und an das leere Blatt glauben. Jedes Stichwort zu einem Gedicht, jede noch so hilflose Kritzelei, in der ein Stück Eigenwelt zu Papier kommt, ist wichtiger und besser als eine Zeile von Hölderlin oder Mörike. Das klingt massstabslos, anmassend, aber gerade diese Unmassstäblichkeit scheint mir etwas vom Wichtigsten zu sein, wenn man sich als Germanist ausdrücken will. Nicht, dass das Literaturbewusstsein um jeden Preis gelöscht werden müsste, ein Mörike-Gedicht kann ohne weiteres den Anstoss (freilich nur den Anstoss) zu etwas Neuem geben, wenn ich es aus seiner heiligen Unantastbarkeit herauszulösen vermag. Die Glanzleistung Mörikes soll mich nicht beschäftigen, «das ist für den Kulturkreis besprochen und durchgearbeitet»; mich interessiert das, was Mörike in seiner Zeit, mit seinen Mitteln nicht sagen konnte.

Um ein Beispiel zu nennen: Als Historiker würde ich niemals über den Rang des Gedichtes «Gesang Weylas» streiten. Als Schriftsteller sähe ich mich gezwungen, nach einem besseren Wort für «Wärter» in der letzten Zeile der zweiten Strophe zu suchen. Ich könnte kaum beweisen, weshalb das Wort nach meinem Gehör völlig falsch ist, aber der Schriftsteller muss ja keine Beweise, sondern Produkte liefern. Aus diesem Zwiespalt lässt sich vielleicht der Satz verstehen, dass Germanistik und Schriftstellerei zunächst nichts miteinander zu tun haben. Zunächst - damit meine ich das Schreiben als Prozess, nicht das abgeschlossene, veröffentlichte Produkt, das natür­lich mit den Kriterien der Literaturkritik erfasst werden soll und darf, sofern der Historiker diese Dinge zuerst liest, bevor er darüber urteilt, und sich, absichtlich oder unbewusst, nicht dümmer anstellt als jeder Laie, wovon etwa folgende Bemerkung zeugen mag: «Wenn Ingeborg Bachmann zur Zeit Hofmannsthals gelebt hätte, würde sich kein Mensch um sie gekümmert haben».

So stellt sich für den schreibenden Germanisten die Frage, ob ihm diese schwierige Trennung der Standpunkte gelinge. Er muss vom leeren Blatt ausgehen, von dem, was nicht da ist, was sein könnte. Seine Sorge darf nicht das Meisterwerk, nicht die Literatur, nicht die Kunst sein; er schreibt nicht, um Kunst zu machen, sondern weil er schreiben muss, weil er ohne diese Befreiungsversuche seiner eigensten Welt nicht existieren könnte. Ich müsste also, um wiederum ein Beispiel, freilich ein überspitztes, zu konstruieren, während einer Vorlesung oder eines Seminars, wenn Staiger den Bennschen Satzbau kritisiert oder die Verständlichkeit der Celanschen Chiffren anzweifelt, gerade mit den unzusammenhängendsten Satzgliedern, den individuellsten Chiffren und womöglich mit Hilfe der Typographie ein Gebilde entwerfen können, sofern sich zufällig ein Antrieb einstellte, welcher die erwähnten Massnahmen zwingend erfordern würde. Ich müsste aus der Vorlesung laufen, mich in meinem Zimmer hinter die Maschine setzen und in naiver Unbekümmertheit um Regeln und Vorbilder, in völliger Ignoranz aller Theorie und Ästhetik dieses Gebilde zu Papier bringen, nicht nach gut oder schlecht, nach Kunst oder irgend etwas fragend. Und ich muss, zumindest am Anfang des Prozesses, daran glauben, dass das, was in solchen rauschhaften Augenblicken entsteht, noch nie gesagt worden sein könnte.

Wichtig ist, dass es entsteht, dass es nicht aus lauter Angst vor dem Vergleich erstickt. Erstickt es trotzdem, dann war, glaube ich, das Talent zu schwach, und es würde sich auch anderswo totlaufen. Oder eben, die Begabung vermag sich noch nicht durchzusetzen, sie ist noch zu jung, um gegen die Autoritäten der Literatur aufzukommen. Wie dann ein solches Gebilde nach den eigenen und immer wieder neu zu schaffenden Gesetzen ausgeformt wird, steht auf einem andern Blatt, gehört unter das Thema »Wie entsteht ein Gedicht?«. Auch auf diese Frage kann man jeweils nur achselzuckend antworten, denn erklären, begründen lässt sich so ein Ding selten.

Meine Gedichte sind mir ebenso fremd, wie sie einem andern Leser sein mögen, denn sie zeigen mir ja etwas, was erst durch sie wirklich und erfahrbar wird. Wenn ein Dichter erklärt: «Was ich mit meinem Gedicht sagen wollte ...», dann muss man ihn fragen: «Warum haben Sie es dann nicht gesagt?» Man kann nie mit einem Gedicht etwas sagen, etwas also, was anfürsich, als Inhalt, als Destillat besteht. Das gelungene Gedicht ist, was es sagt. Wenn ich das zu Sagende ohne Gedicht sagen kann, dann brauche ich das Gedicht nicht mehr. Und die Erklärungen über das formale Ausgestalten sind sekundär, sie streifen nie das Wesentliche. Infolge dieser Fremdheit wäre es durch—aus denkbar und nicht absurd, ein eigenes Gedicht zu interpretieren. Ich erinnere an die Geschichte des Literaturstudenten, der seine Gedichte unter einem Pseudonym veröffentlichte, das Geheimnis wahren konnte und an der Prüfung durchfiel, weil er über den unbekannten Dichter zu wenig Bescheid wusste.

[...] Germanistik und Gegenwartsliteratur beissen einander nicht, wenn sie nicht wie Hunde aufeinander losgehetzt werden. Deshalb ist die Frage, um darauf zurückzukommen, ob man neben Germanistik noch schreiben könne, sicher mit Ja zu beantworten, wenn auch mit einem zögernden Ja, denn vielen wird die Tradition statt zur Quelle immer neuer Anregungen zum Verhängnis, zwingt sie zu resignierendem Verstummen.