Auf Kosten der Opfer

Betroffenen fehlt es bei der Anlaufstelle für sexuelle Belästigung der Universität Zürich an Opferzentrierung und Empathie. Trotz langjähriger Kritik setzt die Uni auf juristische Beratung.

Liv Robert (Text) und Mara Schneider (Illustration)
17. November 2025

«Ich habe mich überhaupt nicht ernst genommen gefühlt», erzählt die Studentin und Universitätsangestellte Laura*: «Es war zermürbend.» Im Jahr 2023 meldete sie sich gemeinsam mit ihrer Arbeitskollegin anlässlich eines Übergriffs bei der universitären Anlaufstelle für sexuelle Belästigung. Diese wird von der Kommission des «Reglements zum Schutz vor sexueller Belästigung an der Universität Zürich» (RSB) geführt. Die zwei Frauen seien mehrfach unerwünscht von einem universitätsinternen Mann per Mail kontaktiert worden, wobei er angekündigt habe, eine der beiden in ihrem Büro zu besuchen. 

Durch Zufall erfuhren sie, dass sie nicht die Einzigen seien, die er belästigt habe. Bei der Anlaufstelle stiessen sie jedoch nicht auf die erhoffte Unterstützung: Im Gespräch mit der Kommissionspräsidentin seien sie darum gebeten worden, die Vorkommnisse nicht gross weiterzuerzählen. Die Präsidentin ist eine emeritierte Professorin für Rechtswissenschaft und führt als untersuchende Person die Anlaufstelle. Mehr als den Mann zu einem konfrontierenden Gespräch einzuladen, bei dem die Betroffenen mit vollem Namen genannt werden müssten, könne man nicht tun, habe sie gesagt. Laura und ihre Arbeitskollegin willigten ein und baten darum, über das weitere Vorgehen auf dem Laufenden gehalten zu werden. Doch dies geschah nicht. «Wir wussten wochenlang nicht, ob die Konfrontation bereits stattgefunden hatte oder nicht. Diese Ungewissheit war das Schlimmste, besonders weil sich der Mann in den gleichen Räumlichkeiten wie wir bewegte.» 

Uni unter Druck gesetzt 

Es ist nicht das erste Mal, dass die Uni Zürich aufgrund ihres Umgangs mit sexueller Belästigung unter Beschuss steht. Anfang des Jahres 2024 hagelte es mediale Kritik zu ihrem Schweigen über die Anzahl der gemeldeten Belästigungsfälle, die nicht einmal für interne Gremien wie der Kommission für Gleichstellung und Diversität zugänglich waren. Als zwei Kantonsrätinnen Transparenz forderten, begründete die Uni die Geheimhaltung mit Datenschutzbedenken. Eine Publikation blieb aus. Der Studierendenverband der Universität Zürich (VSUZH) schätzte die Situation als «unhaltbar und kontraproduktiv für die Bekämpfung sexueller Belästigung» ein und reichte im Februar 2024 ein Gesuch auf Informationszugang bei der Uni ein, wie er auf Nachfrage schreibt. Die NZZ tat es ihm gleich. Nach dem Öffentlichkeitsprinzip sah sich die Universität somit rechtlich dazu verpflichtet, den Antragstellenden Zugang zu den Tätigkeitsberichten der Kommission RSB zu gewähren. Der Studierendenverband publizierte die Zahlen daraufhin am 24. April 2024 auf seiner Webseite. Auch auf der Seite der Universität erschienen sie: Man habe sich anlässlich des nationalen Tags zum Schutz vor sexueller Belästigung an Hochschulen dazu entschieden, die Dokumente zu veröffentlichen, heisst es in der Überschrift. 

Dass dieser Entscheid aus eigenen Stücken fiel, bleibt angesichts der vorangegangenen Ereignisse fraglich. Die Dokumente zeigen, dass die Anzahl bearbeiteter Fälle letztes Jahr bei 40 und im Jahr zuvor bei 43 lag. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein, denn sich nach einem Übergriff tatsächlich Hilfe zu holen, trauen sich erwiesenermassen wenige. Der VSUZH berichtet auf Nachfrage zudem von 14 Personen, die sich seit 2022 wegen sexueller Belästigung beim Studierendenverband gemeldet haben, obwohl eine solche Beratung eigentlich nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt. 13 von ihnen hätten zuvor bereits Kontakt mit der Kommission RSB gehabt und sich nicht genug unterstützt gefühlt: Der Prozess habe sie mehr an ein Gerichtsverfahren erinnert als an eine Beratungsstelle, die in erster Linie Opfer von sexueller Belästigung schützen sollte. 

«Die Kommission RSB untersucht nur, wie der oder die Täter*in sanktioniert werden kann, nicht aber, wie Betroffene geschützt werden können.»
Seraina Eisele, ehemalige Co-Präsidentin des VSUZH

Auch an Empathie soll es gefehlt haben, schreibt der Verband. Eine Person habe nicht gewusst, dass es an der Universität überhaupt eine Anlaufstelle gibt. Unterstützt wurden viele dieser Betroffenen von Seraina Eisele. Die ehemalige VSUZH-Co-Präsidentin erzählt im Gespräch mit der ZS, dass sich bis heute, ein Jahr nach Ende ihrer Amtszeit, Personen aufgrund von schlechte Erfahrungen mit der Anlaufstelle bei ihr melden. 

Der psychologische Ansatz fehlt 

Dass die Kommissionspräsidentin Hilfesuchenden beispielsweise geraten habe, in Zukunft entschlossener «Nein» zu sagen, sei Eisele schon mehrfach erzählt worden. Im Winter 2024 rief sie deshalb innerhalb der Kommission für Gleichstellung und Diversität eine Arbeitsgruppe ins Leben. Mit Eisele als Leiterin, sollte das Team gemeinsam mit Betroffenen Empfehlungen zur Überarbeitung an die Erweiterte Universitätsleitung formulieren. Zum Missstand trägt laut Eisele vor allem der Beratungsansatz bei: «Die Anlaufstelle geht die Fälle aus einer rein rechtlichen Perspektive an, wobei die Gespräche ohne psychologische Betreuung ablaufen.» Es fände keine opferzentrierte Unterstützung statt. Die Kommission untersuche lediglich, ob der oder die Täter*in sanktioniert werden kann, nicht aber, wie betroffene Personen geschützt werden können. Dabei ist die Wichtigkeit eines opferzentrierten Zugangs auch wissenschaftlich belegt. 

Die unabhängige Denkfabrik für kritische Wissenschaftler*innen der Schweiz «Reatch» stellt ein ganzheitliches Betreuungssystem vor. Der Artikel fordert neben Opferzentrierung und Niederschwelligkeit der Unterstützungsangebote eine Ausbildung aller involvierten Fachpersonen, auch im Bereich Psychotraumatologie. An der Universität haben Studierende die Möglichkeit, sich neben einer rechtlichen Beratung durch die Kommission RSB bei der psychologischen Beratungsstelle zu melden. Zur Frage, ob deren Psychotherapeut* innen spezifisch im Bereich sexueller Belästigung wie Psychotraumatologie geschult seien, möchte sich die Stelle auf Anfrage jedoch nicht äussern. Eisele betont, dass eine externe Weiterleitung an die psychologische Beratungsstelle nicht zielführend ist, sondern psychologische Begleitung schon innerhalb der Anlaufstelle garantiert werden müsse, insbesondere im Kontext eines für viele retraumatisierenden Erstgesprächs. Zudem steht die Trennung der Beratungsstellen mit der Forderung nach Niederschwelligkeit im Widerspruch. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe erreichten die Erweiterte Universitätsleitung jedoch nie, sondern wurden gemäss Tagesanzeiger kommissionsintern von Einzelpersonen blockiert. Eisele verliess deshalb im Juni 2024 die Kommission für Gleichstellung und Diversität. 

Weshalb die Empfehlungen nicht an die Erweiterte Universitätsleitung gelangten, lässt der damalige Präsident der Kommission für Gleichstellung und Diversität auf Nachfrage unbeantwortet. Als letzten Versuch organisierte Eisele Ende Mai dieses Jahres mit über 50 Personen eine Protestaktion am universitären Podium zu sexualisierter Belästigung und Gewalt an Hochschulen. Die Demonstrierenden hielten Schilder mit Texten wie «Opferschutz statt Imageschutz» oder «Eure Untätigkeit ist Teil des Problems! » in die Höhe und Eisele überreichte der Kommissionspräsidentin die Forderungen der Arbeitsgruppe persönlich. Laut dem Tagesanzeiger habe diese gefasst reagiert und die Probleme anerkannt. Die Verantwortung habe sie jedoch nicht übernommen, denn die Mittel für Veränderung lägen schlussendlich bei der Universitätsleitung.

Überarbeitungen stehen an 

Die Präsidentin übt ihr Amt seit 19 Jahren ehrenamtlich aus. Im Tätigkeitsbericht 2022 wird betont, wie «kostengünstig diese Lösung» sei. Dass ausgerechnet beim Schutz vor sexueller Belästigung gespart wird, wirft Fragen nach der Prioritätensetzung der Universität auf. Gegenüber der ZS verkündet die Medienstelle der Uni Zürich nun jedoch die langersehnte Überarbeitung. Im Rahmen des Projekts «EDIxUZH » sowie weiterer universitätsinterner Massnahmen sollen sowohl die Webseite als auch das seit 2007 unveränderte Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung angepasst werden. Dabei würden Rückmeldungen von Betroffenen mit einfliessen. Ein Projektleiter sei beauftragt, «die strukturelle, rechtliche und kommunikative Weiterentwicklung der Beratungs- und Unterstützungsangebote zu koordinieren». Was diese Koordination umfasst, bleibt ungewiss. Die Medienstelle schreibt auch im Namen der Präsidentin der Kommission RSB: Zu den Vorwürfen der Betroffenen nimmt sie keine Stellung. Bestätigt ist jedoch, dass die Anlaufstelle ihren rein juristischen Ansatz beibehalten wird. Ob die geplanten Reformen dazu führen werden, dass sich Betroffene wie Laura ernstgenommen und unterstützt fühlen, bleibt offen.