Brauchen wir Tageslicht wirklich? uni-wuerzburg.de

Duell: Tageslicht

Können wir auf das Tageslicht verzichten oder werden wir dann zu Mördern mit X-Beinen?

Corsin Zander (Dafür) und Hanna Stoll (Dagegen)
22. September 2011

Dafür

Ohne Tageslicht wären wir in kürzester Zeit depressive Mörder, die immer wieder einnicken und deren Knochen so brüchig sind wie Glas.

Charles Montgomery Burns hat es vorgemacht: Er schirmte Springfield vom Tageslicht ab, um die Stadt mit der Energie seines Atomkraftwerks zu versorgen. Daraufhin erschoss ihn ein Baby. Diese Begebenheit aus der Zeichentrick-Serie «The Simpsons» ist nicht wissenschaftlich bewiesen, andere Fakten hingegen schon.

Die Chronobiologie entdeckte kürzlich Melanopsin-Photorezeptoren in der Netzhaut des Auges. Kurzwelliges, blaues Licht, das vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung vorhanden ist, stimuliert diese Rezeptoren, worauf das Gehirn Melatonin produziert. Dieses Hormon stellt die innere Uhr täglich neu, denn die geht falsch. Sie denkt, der Tag habe 24.2 Stunden. Ohne Licht wäre der Schlafrhythmus nach fünf Tagen bereits um eine Stunde verschoben. Wir wüssten nach einer längeren Zeit nicht mehr, wann wir schlafen und wann wach sein sollten.

Nicht weiter schlimm, denn viele Studierende wissen in gewissen Vorlesungen auch nicht, ob sie nun zuhören oder lieber schlafen sollen. Doch ohne Licht hätten sie auch noch eine richtig miese Laune. Es würde ihnen das vom Tageslicht angeregte Hormon Serotonin fehlen, ohne das sie nicht nur gelangweilt, sondern sogar depressiv würden.

Ausserdem würden wir ohne Tageslicht in uns selbst zusammensacken, denn unsere Knochen könnten uns nicht mehr tragen. Dies entdeckten die Engländer, als sie im 20. Jahrhundert die Sonne aussperrten. Nicht wie Monty Burns mit einem riesigen Schirm, sondern durch die starke Luftverschmutzung als Folge der Industrialisierung. Als der Smog über den Städten so dicht war, dass er kaum mehr UV-Strahlen durchliess, hemmte dies die Vitamin-D-Produktion der Menschen. Bei Kindern führte das zu Muskelschwäche mit Froschbauch, Verstopfungsneigung, Knochenerweichungen am Schädel und Knochenverformungen. Bei Erwachsenen beschränkte sich die Wirkung des Vitamin-D-Mangels auf «spontane Knochenbrüche» – auch nicht gerade wünschenswert.

Da wünschen wir uns doch lieber eine Welt mit viel Sonnenschein, in der wir alle glücklich und wach herrumhüpfen und uns des Lebens freuen. Oder stellt ihr euch das Paradies etwa als einen Ort vor, an dem LED-Lampen für die Beleuchtung sorgen?

Dagegen

Die Vorstellung, am Morgen von den ersten Sonnenstrahlen an der Nase gekitzelt zu werden, ist romantisch. Aber seien wir doch mal ehrlich – wir leben im 21. Jahrhundert und wissen, was die Natur kann, kann die Technik besser. Wir alle kennen die Unzuverlässigkeit des Tageslichts. Es ist schwach und dunstig, wenn man es gerade kraftvoll und warm haben will, dann wieder ist es grell, obwohl man gerade in Dimmlicht-Stimmung ist. Im Winter gibt es kaum Licht, im Sommer viel zu viel, und damit einher gehen Frühlingsgefühle, Herbstdepressionen und andere Gefühlsduseleien, die unseren Alltag durcheinanderbringen.

Wo bleibt da die Selbstbestimmung? Wir leben in einer Gesellschaft, die das Individuum hochhält, Demokratie und Freiheit bejubelt, und dann sollen wir uns noch immer an eine naturbedingte Trennung von Tag und Nacht, von Hell und Dunkel halten? Seit hunderten von Jahren versuchen Menschen, der Tag-Nacht-Dichotomie mit künstlichem Licht aus Petroleum, Gas oder Elektrizität entgegenzuwirken und kritische Geister haben seit jeher die Nacht für sich zum Tage gemacht und umgekehrt. Jeder soll schliesslich selbst bestimmen können, wann er schläft, wann er arbeitet, wann Zeit zum Frühstücken, Joggen, Trinken und Tanzen ist!

Die Lebensmittelindustrie hat längst bemerkt, dass Hühner auch in der Nacht Eier legen und Tomaten auch im Winter wachsen – alles eine Frage des Lichts. Wieso lassen wir Menschen uns also noch immer vom Tageslicht unseren Alltag diktieren, wenn selbst Gemüse die Natur bezwungen hat? Die Blüten der Technik machen es möglich – fiat lux, wann immer ich es will –, auch Gott ist eine Erfindung der Menschen, drum erwache der Tag, wenn ich in die Hände klatsche! Im Solarium ist der Sonnenbrand steuerbar, in der Masoala-Halle gibt es Tropenpflanzen auch in Zürich, Leuchtketten zaubern einen Sternenhimmel direkt übers Bett, dank IKEA-Lampen lassen sich Sonnenuntergänge selber regulieren und mit einer Taschenlampe können die Studierenden von heute selbst mitten in der Nacht, mitten im Wald oder sonstwo büffeln.

Wozu also braucht es Tageslicht? Es war eine gute Idee – zunächst – und hat einige Jahrhunderte ganz gut gedient. Doch Franklin, Volta und andern Erfindern sei Dank! Wir übernehmen das Zepter nun selbst im Zeichen der modernen Selbstbestimmung – also, würde nun bitte jemand die Sonne ausmachen?