Der Türrahmeneffekt
Loslassen – Wenn meine Eltern Freund*innen zum Essen einluden und sich der Abend dem Ende neigte, wurde im Eingangsbereich der Wohnung oder sogar noch im Treppenhaus – über mehrere Treppenstufen hinweg – weiter geredet. Dies konnte noch bis zu einer halben Stunde dauern. Nur selten beschloss man, noch einmal hineinzugehen und sich hinzusetzen. Von meinem Zimmer aus hörte ich sie reden und wusste, dass ich mich nicht beeilen musste, um mich zu verabschieden. Sie waren sowieso noch eine Weile da. Wie so vieles andere hat das wohl auf mich abgefärbt. Als ich irgendwann meine erste eigene E-Mail hatte, schrieb ich meinen Freundinnen aus der Schule – und schon bald endete jede Mail mit einem P.S., P.P.S., P.P.P.S. So wurde ich bekannt für meine ausgedehnten Abschiede.
Die Zeit ist begrenzt. Und fühlt sich insbesondere mit Leuten, die man zu wenig sieht und sehr gerne hat, zu begrenzt an. Je mehr man sich dem Abschied nähert, desto begrenzter wird sie. Dies löst bei mir ein widersprüchliches Verhalten aus. Während man das Gespräch eigentlich langsam beenden müsste, à la «Es war schön, dich wieder zu sehen, bis bald!» oder «Ich muss jetzt los, wir sehen uns!» sage ich: «Oh, wusstest du, dass…» oder «Schöne Ferien! Hast du schon Pläne?». Und schon geht’s wieder los. Mir wird langsam zu warm in meiner Jacke und die Tram fährt gleich, aber trotzdem bleibe ich stehen. Ich möchte eben genau nicht gehen, wenn es am Schönsten ist! Im Angesicht des Abschieds schalten mein Kopf und Körper wie kurz vor einer Deadline in den Hochleistungsmodus. Ähnlich wie beim Arbeiten unter Zeitdruck werden Stresshormone produziert, die Sinne werden wacher und die Konzentration steigt. Alles ist intensiver, alles erscheint möglich. So bleibe ich bei Freund*innen, in WGs, bei meinen Eltern und hier auf der Redaktion meistens im Türrahmen stehen. Ein Rahmen, in dem alles möglich ist. Es sind die Momente des Was-ich-noch-sagen- wollte oder des Was-ich immer- schon-sagen wollte.
Nicht, dass ich immer das letzte Wort haben muss, vielmehr möchte ich dadurch vermeiden, auf dem Nachhauseweg eine elendslange Sprachnachricht zu verfassen – was dennoch häufig passiert. Es ist der Raum dazwischen. Ich bin noch da, aber doch schon fast weg. Ich lade alles ab. Es kommt mir immer mehr in den Sinn. Eine Kaskade an Fragen, Witzen und Anekdoten. Es will gar nicht mehr aufhören. Ich bin keine, die einfach Tschüss sagt. Ich bin eine Langverabschiederin. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich die Person am nächsten Tag oder erst in einem Jahr wiedersehe. Der Türrahmen – eigentlich zwischen Tür und Angel - ist für mich kein Ort des Nebenbei, sondern voller Aufmerksamkeitund Nähe. Hier beginnt das Eigentliche.