Schämen soll geübt sein

Kolumne

Giorgio Dridi (Text) und Marin Stojanovic (Illustration)
29. September 2025

Loslassen – So heisst das Kolumnen- Thema für dieses Semester. Hoffentlich wird das jetzt nicht zu ratgeberisch. Zum Glück kann man das emotionale Narrativ der Scham manchmal in die Warteschleife setzen. Ganz wegdrücken würde ich es jedoch nicht. Sobald ich mich für etwas schäme, frage ich mich: «Will ich wirklich so sein?» Beispielsweise, wenn ich aus «Self-Care-Gründen» einen Tag länger in den Bergen bleibe und die letzte und vielleicht auch die vorletzte Palästina-Demo verpasse. 

Soll ich das Gefühl der Scham loslassen oder etwas an meinem Handeln ändern? Ich nehme an, Loslassen ist Teil der meisten Veränderungen. Und obwohl ich kein Rezept dafür geben kann, wann man loslassen sollte und wann nicht, kann ich sagen, dass mich der Songtext «Bleib so wie du bist» richtig abfuckt. Weshalb diese Zeile dezent ignorant wirkt, beantwortet ein anderes Lied: «Zu sich selber stah isch scheisse, will mängisch ischs nöd das, was mer brucht het» (Luuk). Manchmal ist es nicht nur scheisse zu sich selbst zu stehen, weil es schlecht für einen selbst, sondern es noch schlechter für den Rest der Welt ist. Wenn dir Flugscham egal ist und du übers Wochenende für deine selbstaktualisierende, Ayahuasca- assisted Chakra-Alinierung in ein bolivianisches Bergdorf flie en musst, dann bist du immer noch ein Arschloch, auch wenn du dir dessen «bewusst bist». 

Loslassen ist dann produktiv, wenn es heisst, Teile seiner Identität loszulassen, die einem selbst oder anderen unnötigen Schaden zufügen. Dabei muss man sich bei der Scham fragen, ob diese berechtigt ist oder nicht. Wenn ein Baby vor mir in einer Pfütze ertrinkt und ich nicht handle, sollte ich mich schämen. Andererseits schämen sich immer noch viel zu viele Männer, über Gefühle zu reden. Die Kunst des guten Lebens (für alle) besteht nicht im Loslassen per se, sondern im Wissen, wann loszulassen und wann nicht. Gut, diese Erkenntnis hilft bei der Entscheidungsfindung nu bedingt, vor allem in einer Epoche, in der man so viele Entscheidungen wie noch nie treffen kann. Ich muss jetzt keine Beispiele aufzählen. Ihr wisst, was ich meine: Die ganzen Mikroentscheidungen mit Makroauswirkungen. Die neue Pandemie heisst Decision-Fatigue. 

Doch wenn ihr trotz aller Untentschiedenheit merkt, ihr solltet das Gedankenkarussell mal stoppen, ist es notwendig, die Fähigkeit des Loslassens überhaupt in petto zu haben. Das kann man jeden Tag üben. Keine Angst, ihr werdet nicht gleich unpolitisch, rückgratlos oder ignorant, wenn ihr mal für fünf Minuten eine andere Perspektive einnehmt oder das Handy nur 23 statt 24-mal am Tag checkt. Wenn ihr merkt, dass die ursprüngliche Meinung überzeugender oder 24-mal Handychecken besser für eure mentale Gesundheit ist, könnt ihr die neue Gewohnheit einfach wieder loslassen. (gio)