Ein feministisches Gedächtnis
Das Weiterbestehen des feministischen Streikhauses in Zürich ist unsicher. Eine Gruppe junger Menschen hat deswegen beschlossen, das Archiv 115 zu gründen, um die Aktionen und Erfahrungen zu dokumentieren.
An den Wänden des Treppenhauses prangen nebst zahlreichen bunten Stickern verschiedenste Poster von vergangenen Streik-Demos. Der Ort gleicht ein wenig einer farbenfrohen Collage: Hier ein Bandraum, dort ein Atelier, daneben ein kleiner «Gratis Secondhand Shop», dann wieder ein Sitzungszimmer und eine Küche. Bereits in diesen Räumlichkeiten spürt man den kollektiven Charakter des Streikhauses, das dem Feministischen Streikkollektiv seit 2019 als temporäres Zuhause dient. Auch die zwei Mitgründer*innen Anna* und Sonja* beziehen mit dem «Archiv 115» nun eine der Räumlichkeiten. Aus Angst vor Repression möchten sie anonym bleiben.
Seit der Übernahme durch das Kollektiv hat sich hier einiges verändert: Wurde der Ort zu Beginn vor allem für Sitzungen genutzt, ist er heute viel mehr als nur Treffpunkt für die Planung der nächsten Demo. Mittlerweile treffen sich hier verschiedenste Leute für Bandproben, Lesegruppen, Selbstverteidigungskurse, Filmabende, Pilatesstunden oder den wöchentlichen Soli-Znacht.
Archivieren für zukünftige Generationen
Neben dem Feministischen Streikkollektiv nutzen auch politische Gruppierungen wie die «Bewegung für den Sozialismus», der Verein «INAYA», der geflüchtete Frauen und queere Menschen unterstützt, sowie zahlreiche weitere Kollektive das Haus. Für viele, die hier ein- und ausgehen, ist das Haus zu einem zweiten Zuhause geworden, wo man sich mit Gleichgesinnten austauschen und bei der gemeinsamen Projektarbeit verwirklichen kann. Dabei ist unklar, wie lange das Streikhaus noch am Sihlquai bleiben darf. Bereits einmal musste es um seine Existenz bangen, da die Zwischennutzung ursprünglich bis 2025 befristet war. Danach sollte alles abgerissen werden. Dass diese Frist dann doch noch verlängert wurde, grenze laut Anna bereits an ein kleines Wunder. Bis wann die Zwischennutzung verlängert wird, ist jedoch noch ungewiss. Im Falle eines plötzlichen Aus drohen die Erfahrung und das gesammelte Wissen aus dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft zu verschwinden.
Damit das nicht passiert, hat sich ein Kollektiv von jungen Personen – darunter auch Sonja und Anna – im Sommer 2024 kurzerhand dazu entschieden, das «Archiv 115» zu gründen. Zuvor hatte auch das Sozialarchiv beim Streikhaus angefragt, ob dieses Materialien zur Archivierung abgeben wolle. Doch warum Sitzungsprotokolle und Flyer an ein staatlich anerkanntes Archiv übergeben, wenn man auch selbst eines gründen kann? Während bei der ersten Sitzung noch vier Personen anwesend waren, kommen heute jeweils doppelt so viele.
Die meisten davon studieren: Viele haben einen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Hintergrund, wobei einzelne bereits in ihrer bisherigen Studienzeit in einem Archiv gearbeitet haben. Genauso wertvoll für das Projekt ist nebst diesem Bezug zum Archivwesen auch das technische Wissen der Informatik- und Grafikstudierenden, die gerade mit dem Einrichten der Website beschäftigt sind. Wie dort bereits festgehalten, macht sich das Archiv 115 zur Aufgabe, verschiedene Quellen, die «vom Alltag und den Kämpfen im und um das Streikhaus erzählen», zu sammeln und zu archivieren. Nebst Stickern, Flyern und Postern werden auch Sitzungsprotokolle, Fotos von Demos sowie diverse weitere Quellen archiviert. Erst ein kleiner Teil ist digitalisiert, da das Scannen der Archivalien äusserst zeitaufwändig ist. Ziel sei es jedoch, hier stetig auszubauen. Auch eine Datenbank, auf der die digitalisierten Archivalien zukünftig abrufbar sein sollen, ist in Planung.
Gegenstück zu staatlichen Archiven
Das Archiv 115 ist noch jung: Viele Diskussionspunkte wie die Auswahlkriterien der Quellen oder die Zugänglichkeit des Archivs sind noch nicht abschliessend geklärt und werden in der nächsten Zeit noch zu reden geben. Andere Fragen lasse man jedoch ganz bewusst offen. Es müsse gar nicht immer alles zu Ende diskutiert werden. «Das Schöne an diesem Projekt ist ja genau, dass wir hier im Gegensatz zur Uni auch ohne Reglemente auskommen.» So gibt es zum Beispiel auch keine klar definierten Aufnahmekriterien. Man wolle für alle zugänglich sein, meint Anna, «auch für solche, die nicht Marx gelesen haben». Wichtig seien einzig das Interesse am Projekt und die zeitliche Kapazität. Da viele nicht nur einem Studium, sondern auch einem Nebenerwerb nachgehen, bleibt oft wenig Zeit für die Arbeit im Archiv. Das könne auch frustrierend sein, meint Sonja.
Man ist gezwungen, Abstriche bei der Arbeit zu machen, die einem eigentlich am meisten bedeutet. Gleichzeitig haben alle Verständnis, wenn man es mal nicht an eine Sitzung schaffe. Wie viel Zeit man ins Archiv 115 investieren möchte, bleibt einem selbst überlassen. Hört man den Gründer*innen des Archivs zu, vergisst man schnell, dass viele Studierende unter Freizeit wohl etwas anderes verstehen, als Berge von Papierkram zu durchkämmen. Warum die Mitglieder des Archivs 115 es dennoch tun? «Weil ich Feministin bin», meint Anna, «und weil ich muss». Wegen der gelebten Realität von FLINTA- und queeren Menschen, die tagtäglich unter dem Patriarchat leiden. Mache sie nichts, fühle sie sich ohnmächtig.
Demonstrieren mal anders
Auch bei Sonja war es das Bedürfnis, einen Beitrag zur feministischen Bewegung zu leisten, das sie zur Mitarbeit am Projekt angetrieben hat. Sie sei eher weniger der Typ Mensch, der an Demos aufblühe. Geht sie dennoch, dann meist aus einem Pflichtgefühl heraus. Anders beim Archiv 115, wo sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, auf ihre Weise etwas bewirken zu können. Als Geschichtsstudentin, die während ihrer Studienzeit bereits im Staatsarchiv arbeitete, habe sie an der Archivarbeit zudem die Vorstellung gereizt, mit alternativen Überlieferungsformen zu experimentieren.
Tatsächlich ist das Archiv 115 als autonomes Archiv im Gegensatz zu ihren staatlichen Pendants viel freier in der Auslegung ihrer Archivierungspraxis. Mit einem Fokus auf unkonventionellere Quellen wie Sticker oder Flyer möchte es Menschen eine Stimme geben, die in staatlichen Archiven weniger repräsentiert sind. Dass auch staatliche Archive keine neutralen Informationsspeicher seien, habe die Trump-Regierung erst kürzlich bewiesen. Im Februar hatte sie die Löschung zahlreicher Archivbilder von «BIPOC» (Black, Indigenous, and People of Color) und queeren Menschen in Auftrag gegeben. Solche Ereignisse machen umso deutlicher, wieso es mehr autonome Archive wie das Archiv 115 braucht, die diesen Tendenzen entgegenhalten. Archive sind einsame Orte. Wer schon einmal im Lesesaal eines Staats- oder Stadtarchivs war, weiss, wie still es dort sein kann.
Jeder und jede beugt sich über die Archivalien und schaut weder links noch rechts. Diese Tristesse kennt auch Sonja: Als sie einmal für eine Geschichtsarbeit Poster der Zürcher Jugendbewegung der 80er im Stadtarchiv sichtete, fand sie diese so aufregend, dass sie sich am liebsten vor Ort mit ihren Freundinnen darüber ausgetauscht hätte. Da sich dies in einem Stadtarchiv aber nicht gehört, teilte sie ihre Gedanken via WhatsApp. Im Archiv 115 ist dem nicht so – hier kann sie sich zusammen mit ihren Freundinnen im Streikhaus so lange und so laut über Archivalien austauschen, wie sie möchte.
*Namen von der Redaktion geändert