«Mit 70 ist man noch jung»
Vier Senior*innen erzählen von ihrem Leben: Wie man mit dem Pensionstief umgeht, weshalb ein starkes soziales Umfeld lebenswichtig ist und was sie der jüngeren Generation weitergeben möchten.
Manchmal muss man sich selbst zurechtweisen.
Katharina Spillmannn, 85 Jahre
An zwei Nachmittagen die Woche praktiziert Katharina Spillmann noch als Psychotherapeutin in Zürich. Die Arbeit bereitet ihr Freude. Gerade in ihrem Beruf sei Erfahrung viel wert, sofern man mental fit ist. Schwere Fälle nimmt sie keine mehr an, das könne sie nicht verantworten. Ihre Patient*innen sind zwischen 35 und 70 Jahre alt. Die Themen, die sie beschäftigen, seien dabei weniger vom Alter abhängig, sondern mehr durch persönliche Veranlagungen bestimmt: «In unseren Breiten graden geht es um zwischenmenschliche Konflikte, Unsicherheiten und Ängste, die die Lebensqualität beeinträchtigen, Ehe- und Familienprobleme.»
So auch der Umgang mit dem Alterungsprozess. Während für die einen vieles zu Ende geht, eröffnet sich für andere ein neuer Horizont. Abschied sei dabei ein dominantes Thema; von Menschen, Möglichkeiten sowie Fähigkeiten. Letzteres beschäftigt viele. Bei ihren Patient*innen sei das jedoch weniger Thema: «Mit 70 ist man – heute gesehen – noch jung. Zwischen 80 und 85 werden jedoch zunehmend einschneidende Veränderungen sichtbar, sei das im körperlichen, mentalen oder gesundheitlichen Bereich. So gesehen, müsste man das Alter aufteilen in ‹Alter› und ‹Hochalter›». Der letzte Lebensabschnitt des Hochalters sei oft von starken, beeinträchtigenden Schmerzen begleitet und stelle eine grosse Herausforderung dar. Nicht ohne Grund laute das Sprichwort: «Old age is nothing for sissies».
Ihre Generation hat in der Schweiz an einem Ort und zu einer Zeit gelebt, in denen die Voraussetzungen in Bereichen wie Bildung, medizinischer Versorgung und persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten optimal waren. Im weltweiten Vergleich war das ein Ausnahme zustand. Viele Menschen in ihrem Alter seien sehr dankbar dafür.
Dankbarkeit wird auch spürbar, wenn Katharina über ihren Mann Kurt spricht, der vor wenigen Monaten gestorben ist. Sie erzählt von einer langen, liebevollen und unterstützenden Beziehung. Nach seinem Tod beruhigt sie diese Gewissheit. Auch Ablenkung sei wichtig: Es helfe, dass sie noch so fit sei und Dinge unternehmen kann. Zu Beginn überkam die tiefe Trauer sie täglich. Sie weiss jetzt, wie sich ein schweres Herz anfühlt. In Selbstmitleid will sie aber keines verfallen: «Manchmal muss man sich selbst durchaus zurechtweisen», sagt sie be stimmt.
Um schwierigen Momenten entgegen zuhalten, versucht sie, so oft als möglich im Wald spazieren zu gehen und erinnert sich an das Glück, das sie hatte. Zufrieden erzählt sie von einem Fotoalbum, das sie vor kurzem fertiggestellt hat: «Diese Momente nochmal zu durchleben, war bezeichnend für meinen Trauerprozess.» Dass sich ihre Enkel*innen und Kinder sehr rührend um sie sorgen, sei ebenfalls schön. Familie und ein enges Netzwerk an guten Freundschaften sind zentral. Was sie jungen Menschen mit geben würde? Mitmenschlichkeit, Neugier und Offenheit zu bewahren.
Meine Arbeit ist mein Hobby.
Rolf Gollob, 70 Jahre
«Als ich in der zweiten Klasse war, habe ich mich dazu entschieden, Lehrer zu werden. Ich habe meinem Freund gesagt: ‹Du Markus, ich werde Lehrer.›» Rolf begann seine Karriere als Primarlehrer, stieg später in die Ausbildung von Lehrpersonen ein und wurde Didaktiker. Aufgrund seines Ethnologiestudiums folgte eine Anfrage, ob er in der interkulturellen Pädagogik mitarbeiten wolle, was schliesslich zu seiner heutigen Rolle als Vorsitzender der Leitungskommission des EPAN-Netzwerks beim Europarat führte, wo er sich für Demokratie- und Menschenrechtsbildung einsetzt.
Aus den Projekten entstanden Bücher und Anfragen aus weiteren Ländern folgten. 2006 gründete Rolf gemeinsam mit einer Kollegin an der Pädagogischen Hochschule ein Zentrum für internationale Bildungsprojekte: eine Dienstleistung für Lehrmittel, Ausbildungskonzepte und pädagogische Entwicklungszusammenarbeit. «Das sind im mense Netzwerke, die da entstanden sind.»
Viele seiner Bekannten leben im Ausland, weshalb sie leider nicht an seinen 70. Geburtstag kommen, den er vor ein paar Wochen gefeiert hat. Im Alter einen Bekanntenkreis zu haben, erachtet er als essenziell: «Wir sind soziale Wesen. Ein Freundesnetz zu haben, ist ein grosser Aspekt von Gesundheit.» Bis im Alter von 69 Jahren hat er gearbeitet, erst seit einem Jahr ist er offiziell pensioniert. «Natürlich bekommt man dann die Information, dass man jetzt AHV bekommt und die Pensionskasse aktiv wird. Das ist auch nett», sagt er lachend.
«Aber Pensionierung ist für mich mehr ein formaler Aspekt. Ich habe den Luxus, dass meine Arbeit mich immer schon erfüllt hat. Sie ist mein Hobby» Er führt weiterhin einzelne Mandate weiter, etwa in der Ukraine oder Nordmazedonien. «Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich mein Alter auch. Doch für mich gibt es keinen Grund, das nicht mehr zu machen. Es kommen Anfragen, die Kompetenz ist noch da und die Lust auch. Es ist schön – ich geniesse das.»
Heute geniesst er eine neue Freiheit. Keine Pflichtsitzungen mehr, weniger Reisen, dafür mehr Zeitautonomie, was ihn nicht davon abhält, sich weiter zu engagieren; in Stiftungsräten und als Mitglied der UNESCO Kommission. «Vielleicht vergeht die Zeit auch deswegen so viel schneller als früher». Ihm gefällt die Gesundheitsdefinition der WHO: Körperlich, geistig und sozial. Um körperlich fit zu bleiben, begann Rolf mit 55, auf Marathons zu trainieren und schenkte sich zu seinem 60. Geburtstag den Originalmarathon von Marathon nach Athen. Heute trainiert er vier bis fünf Mal pro Woche, läuft zwei bis drei Marathons jährlich.
Wie alt er sich fühlt? – «Ich habe das Gefühl, dass im Alter ein immer jüngerer Geist in einem immer älteren Körper wohnt. Das ist ein Gegensatz, in dem man lebt.» Für ihn be deutet dieses «Jungsein» vor allem eine gewisse Leichtigkeit: «Ich fühle mich freier im Denken. Der Körper ist, wie er ist, aber ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Ich muss keine Karriere mehr aufbauen – das ist eine Befreiung.» Denn eine Karriere zu starten, war nicht nur einfach. Rolf studierte als erster aus seiner Familie und scheiterte zuerst. Der jüngeren Generation würde er daher raten: Trotz Widerständen dranbleiben, nicht aufgeben und sich die Unterstützung holen, die wirklich hilft.
Setz Glanz auf das Leben.
Willy Spiller, 78 Jahre
Auf Kommoden und Bücherregalen stehen Vasen, kleine Figuren und Skulpturen, auf dem langen Holztisch stapeln sich Bücher von Lyrik über Belletristik bis Sachliteratur. An die Wand lehnen gerahmte Fotografien darüber hängen Plakate und Bilder. Die Einrichtung der Altbauwohnung lässt erkennen, dass Willy Spiller in seinem Leben oft gereist ist. Eigentlich hat te er an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich mit einem Vorkurs in Bildhauerei begonnen, wechselte dann aber in die Fachklasse Fotografie.
Nach dem Abschluss war er kurze Zeit in Mailand bis er für die neue Zürcher Kulturboulevardzeitung «Neue Presse» als Fotojournalist engagiert wurde, um die Stadt von ihren skurrilsten und beeindruckendsten Seiten abzulichten. Internationale Bekanntheit sicherte er sich mit seiner Arbeit «Hell on Wheels». Die Bilder zeigen die New York Subway, deren Spitznamen sie aufgrund der Anzahl an Gewalt- und Morddelikten einholte. «Menschen interessieren sich für das Spannende und Gefährliche, nicht für das Harmonische», sagt Willy. Doch so aufregend das New Yorker Leben war, so anstrengend war es auch.
Und irgendwann packte ihn das Heim weh: «Nach fünf Jahren beginnen sich alte Freundschaften aus der Heimat langsam zu lösen. Das wollte ich nicht.» Trotz aller Möglichkeiten, die sich ihm in den USA als akkreditierter Fotograf boten, hält er an etwas fest: «Zürich als Lokalreporter zu fotografie en, ist das Verrückteste, das man machen kann.» Wer heute durch die Seiten seines Buches «Zürich 1967-1976» blättert, begegnet einer rohen, lebendigen Stadt, die es heute so nicht mehr gibt.
Das zeige sich auch beim Fotografie en: «Setz Glanz auf das Leben.» Es finde kein sichtbarer Austausch mehr statt zwischen den Menschen. Während fremde Menschen früher in der Tram oder in Beizen ins Gespräch gekommen seien, sitzen nun alle vor ihren Geräten und sind verärgert, wenn sie fotografiert werden. Vor seine Linse treten heute seltener Menschen. Aktuell beschäftigt er sich mit dem Zusammenspiel von Architektur und Macht. Nur ab und zu nimmt er noch Anfragen für Geschichten an.
Die Zeiten der grossen Foto- und Kulturreportagen seien vorbei, die Redaktionen zahlen wenig Geld oder nutzen oft nur noch kostenlose Bilder aus dem Internet. Wenn ihn junge Leute fragen, wie man in der Fotografi schnell zu Geld komme, rät er kurz: «Verkauf deine Kamera.» Selbstständigkeit im Beruf sei nicht für jede*n geeignet. Einerseits bietet sie Freiheit und Autonomie, andererseits ist sie mit grossem Druck verbunden. Mit dem, was man macht, solle man Glanz auf’s Leben setzen.
Ein Nostalgiker ist Willy jedoch nicht. Früher war nicht alles nur toll, vieles habe sich verbessert. Diese Einstellung scheinen in seinen gleichaltrigen Kreisen nur wenige zu teilen: «Alle sprechen immer nur von früher oder be schweren sich über Gebrechlichkeiten oder die Polizei. Das ist nichts für mich.» Seine 78 Jahre merkt man ihm nicht an. Der tägliche Austausch mit Jüngeren, halte lebendig.
Die Leichtigkeit, mit der er über diese Themen spricht, steht der Ernsthaftigkeit im Gespräch darüber, was er gerne früher erkannt hätte: Schönheit ernsthafter zu verfolgen. «Schönheit ist Seelenbalsam. Sie ist der Schlüssel zu allem», sagt Willy. Dabei spricht er nicht von einem ästhetischen Ideal, sondern von allem, was uns berührt und bewegt.
Arbeitet nicht so viel!
Heidi Tacier, 81 Jahre
Heidi Tacier hat sich mit 81 exmatrikulieren lassen. Bis vor kurzem war sie noch im Geschichtsstudium eingeschrieben. Vor 60 Jahren hatte sie schon einmal studiert: Medizin. Anschliessend führte sie während 31 Jahren ihre eigene Praxis für Pädiatrie und Allergologie in Höngg, im Haus, in dem sie heute noch wohnt. «Vor kurzem hätte ich mich fast in der Alterssiedlung angemeldet. Doch dann sah ich hier von meinem Arbeitsplatz in die Natur hinaus und dachte mir: Nein, ich kann hier nicht weg», sagt Heidi und blickt auf die Quittenbäume auf ihrer Terrasse.
Gedanklich ist sie noch halb bei dem, was sie soeben gelesen hat: Ein Paläontologie Paper über einen urzeitlichen Meeressaurier, dessen Hautfossil neue Hinweise auf seine Schwimmtechnik gibt. Auf einer archäologischen Reise im Sudan war sie in Kerma, wo Charles Bonnet sieben rituell zerschlagene schwarze Pharaonen ergraben hatte, zufällig dabei, als er diese restauriert dort im neuen Museum errichtete. Dort wurde ihr geraten, ihren Interessen entsprechend Ethnologie zu studieren.
«Ich habe ein Semester lang reingehört und fand es so spannend, dass ich gleich weitergemacht habe.» Noch während ihrer Tätigkeit als Ärztin begann sie einen Bachelor in Ethnologie. Darauf folgte ein Master in ostasiatischer Kunstgeschichte und ihre Dissertation über Elsy Leuzinger. Anschliessend untersuchte sie die Umstände von Leuzingers und Jolantha Tschudis Feldforschung von 1954/55 bei den Afo/Eloyi, einer Ethnie in den Bergen von Nord-Nigeria, deren Ge schichte nicht ausführlich dokumentiert war. Mit Freude zeigt sie das Buch, das sie nach der Erschliessung der von ihr geretteten Bilddokumenten aus Nigeria publiziert hat. Für die Nachforschungen war weiterhin ein Uni VPN-Zugang notwendig, weshalb sie sich für Geschichte einschrieb. Nach gesundheitlichen Problemen fehlte anfangs Jahr die Energie.
Im Frühling, ohne Studium, geriet Heidi zum ersten Mal in ein «Pensionstief», wie sie es selbst nennt. Um darin nicht festzustecken, hält sie sich jetzt diszipliniert an gewisse Regeln: Jeden Morgen Pilates, täglich im Wald zügig gehen und Laban-Bewegungstechnik. «Es ist nicht ganz einfach, alt zu werden. Man muss sich selbst eine Struktur erbauen.» Vor ein paar Wochen machte Heidi beim generationsübergreifenden Tanzprojekt «Touch Through» am Theaterspektakel mit. «Da war ich dann schon die Älteste», sagt sie und lacht.
Und auch ohne Studium ist Heidi immer noch von Neugierde getrieben: «Über alles, was mich interessiert, will ich mehr wissen.» So verbrachte sie vor kurzem drei Tage im Tessin mit «Archäologie Schweiz». Ob die Zeit im Alter schneller oder langsamer vorbeigeht, habe sie sich nie wirklich überlegt. «Langweilig ist mir nie. Ich lese viel und bleibe immer irgendwo hängen.» Was sie jungen Menschen raten würde? «Arbeitet nicht so viel!» Denn heute merkt sie, dass die grosse Arbeitsbelastung als Kinderärztin sie daran gehindert hat, einen grösseren Bekanntenkreis zu pflegen. «Das fehlt mir jetzt gelegentlich.»