«Ein Star bin ich nicht»
Den Namen Nelio Biedermann trifft man neuerdings überall an. Der Autor erzählt vom Schreibprozess, dem Umgang mit dem Erfolg und seinen Erfahrungen im Literaturbetrieb.
«Lázár» erzählt die Familiengeschichte eines ungarischen Adelsgeschlechts vom Habsburgerreich bis in den Kommunismus. Du hast selbst ungarische Wurzeln. Wie viel Autofiktion steckt im Roman?
Für mich ist es schwierig zu sagen, was Autofiktion und was reine Fiktion ist. Die historischen Ereignisse, welche die Familie von Lázár durchlebt, sind nahe an der Realität: Krieg, Enteignung, Deportation, Flucht. Fiktiv sind hingegen die Figuren. Wichtig war mir, dass die Protagonist*innen nicht deckungsgleich mit meinen Grosseltern sind, auch wenn einzelne Figuren nah an realen Vorbildern erschaffen wurden. Es ging mir auch nicht darum, Fiktionales und Historisches zu trennen, sondern Grenzen bewusst zu überschreiten. Familienerzählungen wirken ohnehin manchmal surreal.
Wie bist du bei der historischen Recherche zu den grossen politischen Entwicklungen und der Familiengeschichte vorgegangen?
Der grösste Teil der familiären Anekdoten, die mich beim Schreiben inspirierten, wurden mündlich weitergegeben und innerhalb der Familie immer wieder gerne erzählt. Für die dunkleren Kapitel besuchte ich meinen Grossonkel in Budapest und sprach eine Woche lang intensiv mit ihm über unsere Familie. Er hat ein kleines Archiv mit Fotos, Familienstammbäumen und Todesurkunden, die auch Suizide festhielten; etwas, das sonst eher unter den Teppich geschoben wird. Den historischen und politischen Rahmen habe ich mir vor allem durch klassische Recherche erarbeitet. Entscheidend war nicht, bestimmte Ereignisse «abzudecken», sondern Anknüpfungspunkte für die Handlung zu finden.
Zu deinem Debüt «Anton will bleiben», in dem du die Geschichte eines sterbenden Mannes erzählst, hast du gesagt, die Themenauswahl sei eher unbewusst erfolgt. Wie war das bei diesem Roman?
Eigentlich wollte ich dieses Buch schon lange schreiben, weil die Familiengeschichte zu Hause stets Thema war. Ich habe mehrmals begonnen, es hat aber gedauert, bis ich den richtigen Ansatz fand. Im Urlaub in Portugal vor zwei Jahren war dann plötzlich der erste Satz in meinem Kopf. Dann ging es los.
«Lázár» ist in kurze Kapitel gegliedert, zugleich wirken die langen, szenischen und poetischen Sätze sehr sorgfältig formuliert. Hast du dich sprachlich weiterentwickelt?
Bei meinem ersten Buch stand die Geschichte im Vordergrund. Ich wollte einfach schreiben, ohne mir viele Gedanken über Mittel und Sprache zu machen. Wichtig war sie zwar schon, aber ganz anders als jetzt bei «Lázár». Hier habe ich intensiv überlegt, welche Sprache und welcher Stil zur Geschichte passen. Darauf lag ein besonderer Fokus.
Imre, eine Figur im Roman, liest E.T.A. Hoffmann und ist sichtbar von dessen Schauergeschichten geprägt. Auch in deinem Buch finden sich mystische, oft nicht rational greifbare Elemente der Romantik. Hast du dich an diesem Stil orientiert?
Im ganzen Buch lassen sich intertextuelle Bezüge entdecken. Ich habe mich bewusst inspirieren lassen, nicht nur von der Romantik. Gerade ihr Mystisches passt jedoch besonders gut. E.T.A. Hoffmanns «Sandmann» hat mich schon im Gymnasium tief beeindruckt. Auch dort verliert der Protagonist durch das Schauermärchen den Bezug zur Realität. Diese Idee habe ich auf Imre übertragen. Neben der schwarzen Romantik haben mir auch Familienromane wie Thomas Manns «Buddenbrooks» Anregungen gegeben. Viele Werke habe ich bewusst während des Schreibens gelesen und mich dabei stets gefragt: Wie ist die Erzählung aufgebaut? Was lässt sich daraus ziehen?
Welche Bedeutung kann diese Geschichte für unsere Gegenwart haben?
Das Historische bildet einen prägenden Rahmen, zugleich wirken die Figuren entrückt von den Geschehnissen, weshalb sie ein Stück weit zeitlos sind. Alle hadern mit sich und ihrem Leben, finden keinen Platz in ihrer Welt – etwas, das sich direkt auf heute übertragen lässt. Auch damals waren die Zeiten von Unruhe und Umwälzung geprägt. Die Überforderung durch Zeitenwenden, heute etwa durch technologische Fortschritte, ist vergleichbar. Im 20. Jahrhundert waren die Figuren Spielbälle der Geschichte, ein Gefühl, das heute viele Menschen teilen.
Mit dem Rowohlt Berlin Verlag publiziert einer der renommiertesten deutschen Verlage dein Buch. Wie kam es dazu?
Mittlerweile unterstützt mich die Zürcher Agentur Liepman Literary Agency. Eine Agentin war zufällig bei meiner allerersten Lesung in der kleinen Bibliothek meiner Heimatgemeinde Thalwil, gab mir ihre Karte. Ich habe mich gemeldet, als ich den Verlag wechseln wollte. Die Agentur nahm mein Werk auf, und es kam zu einer Auktion mit sieben deutschsprachigen Verlagen. Es war surreal, plötzlich nicht mehr Bewerbungen schreiben zu müssen, sondern umworben zu werden. Natürlich spielte auch der Vorschuss eine Rolle, aber nicht nur. Ich habe mich nicht für das höchste Angebot entschieden.
Kannst du vom Schreiben leben?
Mittelfristig kann ich vom Schreiben leben. Die Übersetzung von «Lázár» in knapp zwanzig Sprachen und das Erscheinen in mehr als zwanzig Ländern geben Spielraum. So kann ich Lesungen auswählen und muss nicht jede Einladung annehmen. Doch noch ist es nur ein einzelnes Buch, und man weiss nie, wie es weitergeht.
Bist du am Deutschen Seminar der Uni Zürich eigentlich ein Star?
(Lacht) Nein, ein Star bin ich sicher nicht. Manchmal werde ich auf meine Arbeit angesprochen. Ein Kollege, der in einer Gelateria arbeitet, fragte mal eine etwas ältere Germanistikstudentin und Kundin, ob sie mich kenne. Sie meinte ja, aber nicht persönlich. Vielleicht bin ich jetzt schon bekannter, doch ich bin froh, davon wenig mitzubekommen.
Wie vereinbarst du Schreiben und Studium?
Wegen der Lesungen werde ich mein Studium wohl nicht in drei Jahren beenden, aber das stresst mich nicht. Mein Fokus liegt jetzt klar auf dem Schreiben. Den Bachelor will ich auf jeden Fall abschliessen, danach weiter schreiben.
Wirst du je wieder so persönlich schreiben wie in «Lázár»?
Das ist eine gute Frage, die ich mir auch gestellt habe. Viele Autor*innen, die sehr persönliche Geschichten schreiben, berichten von der Schwierigkeit, erneut so Intimes zu erzählen. Diese Angst habe ich abgelegt. Lázár ist zwar persönlich, zugleich aber eine Familiengeschichte, bei der ich nicht im Vordergrund stehe.
Nelio Biedermann wurde 2003 in Thalwil am Zürichsee geboren. Er studiert Germanistik und Filmwissenschaften an der Universität Zürich.