Die eigene Ecke zeichnen

1959 zeichnet Karl Domenic Geissbühler für den «Zürcher Student». Später gestaltet er unzählige Plakate für das Zürcher Opernhaus. Ein Gespräch mit dem 92-jährigen Grafiker.

Linn Stählin (Text und Fotos)
20. Februar 2025
Der Aufschlag des «Zürcher Student» vom Juli 1959.

«Ich sass damals im Odeon, hier am Bellevue, und zeichnete. Als Studenten waren wir immer dort, gingen ein und aus wie in unserem eigenen Wohnzimmer – entweder im Odeon oder im Select, einem Studentencafé weiter vorne beim ehemaligen Kino Nord-Süd. Ich zeichnete also gerade im Odeon, als mich jemand fragte, ob ich für den ‹Zürcher Student› arbeiten möchte. Da war ich natürlich sofort dabei. Gedruckte Exemplare – das war früher etwas. Etwas Handfestes, etwas, das bleibt. Das hat wohl funktioniert, oder?» Hundert Meter vom Odeon entfernt sitzt Karl Domenic Geissbühler, 92, an einem grossen Tisch in seinem ehemaligen Atelier, direkt oberhalb des Kinos Corso. Die Aufschläge des «Zürcher Studenten» liegen vor ihm auf dem Tisch und erinnern an vergangene Zeiten. Zwischen 1959 und 1960 zeichnet Geiss bühler sechs Aufschläge – alle farbig, mit Füller, Bleistift oder in Form zusammengesetzter Collagen. Die Zeichnungen zeigen schnelle Bewegungen und verschiedene Motive: Student*innen, Gesichter, Fahrräder. Zum hundertjährigen Jubiläum der ZS entdecken wir die Zeichnungen wieder. 

Unterricht im Bellen 

Die Zürcher Studierendenzeitung, damals unter dem generischen Maskulinum «Zürcher Student», erscheint achtmal im Jahr. Aufschlag und Text der Zeitung scheinen da mals nicht viel miteinander zu tun zu haben. «Man hat mich einfach machen lassen. Ich zeichnete mit Kugelschreiber oder mit Pinsel. Ich machte die Zeichnung, gab sie ab und hörte vielleicht wochenlang nichts mehr», sagt Geissbühler. «Dann tauchten die gedruckten Zeichnungen im Odeon oder auch an der Schule auf.» Geissbühler zeichnet einen Architekten bei der Arbeit, collagiert ein Cello, malt ein Porträt mit grossen Augen. «Ich probierte einfach aus – vor allem das Format interessierte mich.» Mit der «Schule» meint Geissbühler die Zürcher Kunstgewerbeschule, heute Zürcher Hochschule der Künste. Geissbühler studiert Grafikdesign. 

Unter anderem lernt Geissbühler bei Johannes Itten. Itten war ein Schweizer Maler und Pädagoge, der eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der modernen Kunst und Architektur spielte. Er lehrte am Bauhaus in Weimar und verfolgte einen innovativen Ansatz, der die Verbindung von Theorie und Praxis betonte und Elemente wie Farbenlehre und Formanalyse einbezog. Seine Lehren spiegelten die Ideen der Moderne wider, die eine Abkehr von traditionellen Kunstformen und eine Hinwendung zu abstrakten, funktionalen und expeimentellen Aus drucksformen anstrebte. Auch an der Kunstgewerbeschule ist Johannes Itten Teil einer Umstrukturierung in der Lehre. 

«Eines Abends kam ich nach Hause, und mein Vater fragte mich: ‹Bueb, was hesch glernt i de Schuel?› Und ich erklärte ihm, dass ich heute auf den Tisch stehen und bellen musste», erzählt Geissbühler. «Ittens Motto war: ‹Wir schlafen nur, wenn wir in die Schule gehen. Wir müssen nicht schlafen, wir müssen singen.›» Es war auch Itten, der an der Kunstgewerbeschule Gymnastik eiführte. «Wir machten jeden Morgen ‹Leibesübungen›. Später engagierte die Schule dann auch Gymnastiklehrer*innen. Wir marschierten alle zusammen nach Wipkingen und hatten dort Turnen», sagt Geissbühler. «Aber ich hatte Spass bei ihm. Es war gut, richtig durchzuatmen, anstatt so verkrampft am Schreibtisch zu sitzen. Im Stress, beim Zeichnen, beim Reden – da tat man sich schwer, richtig zu atmen.» Auch Geissbühler steht auf und zeigt das Archiv seiner Arbeiten im hinteren Teil des Ateliers. Hunderte von Polaroids reihen sich an der Wand. Dahinter: Plakatrolle neben Plakatrolle, alle sorgfältig beschriftet. Die Arbeiten reichen von den ersten in den frühen 60ern bis hin zu den letzten, vor dreizehn Jahren. 

«Als ich mit dem Studium fertig war, bewarb ich mich bei der Werbeagentur Dr. Rudolf Farner. Gerade hier im Haus nebenan, im dritten Stock.» Da habe er «so richtig Werbung gemacht». Zum Beispiel für die Waschmittelfirma Persil («schmutzfeindlich und spülfreudig!»). Später plakatiert Geissbühler für die Bernina Nähmaschinen. Er macht sich selbstständig und kann das Atelier eines Grafikers übernehmen. In diesem Atelier, ebenjenes oberhalb des Kinos Corso, arbeitet er bis 2012. Geissbühler zeigt auf eine Plakatreihe für die British Airways («Fly BEA to Britain»). Die Gesichter sind unverkennbar, sie gleichen den Aufschlägen für den «Zürcher Student» von 1959.

Das Plakatarchiv des Grafikers.

Vom Odeon zur Oper 

«Für mich war Werbung damals aber auch ein notwendiges Übel. Der kommerzielle Weg hat mir nicht so gefallen. Ich wollte lieber in die Welt der Kunst.» 1976 gewinnt Geissbühler den Wettbewerb für das neue Logo des Opernhauses Zürich. Ein «Steinwurf» von seinem Atelier entfernt. «Da dachte ich: Oper, das ist herrlich. Ich ging auch immer in die Proben. Ich hatte damals ein Passepartout. So konnte ich dann irgendwann auch mein erstes Plakat für eine Oper machen», erzählt Geissbühler. Das Opernhaus hatte damals aber nur genug Budget für ein Plakat pro Saison. «Ich wollte aber jedes machen, und ging halt eigenhändig auf Sponsorensuche.» Frühere Kund*innen, darunter die Inhaberin der Bernina Nähmaschinen, finanzierten weitere Plakate. 

«So hatte ich mehr oder weniger freie Hand und konnte einfach mit dem Zeichnen beginnen», sagt Geissbühler. «Natürlich spielte im Ganzen auch immer viel Zufall mit rein. Ich war auch am richtigen Ort, ob in den Proben in der Oper oder im Odeon.» Zwischen 1977 und 2012 zeichnet Geissbühler zusammen mit seinen Mitarbeitenden über 700 Plakate für das Zürcher Opernhaus. Jedes Plakat sei ein von Grund auf neu geschaffenes Bild. «Ich bin da nicht so sentimental. Immer wenn eines fertig war, war ich gedanklich schon beim nächsten», sagt er.

Eine Aufnahme des Bühnenbildes «der Narziss» von 1981.

Pinselstrich im Bühnenbild 

«Ich arbeitete immer mit verschiedenen Stimmungsbildern und Serien. Mit einer Reihe von Ideen. Dann sprach ich mit den Regisseur*innen und wir arbeiteten weiter. Sie gaben Hinweise, wollten Kombinationen oder ganz etwas Neues. Oftmals war der Entwurf auch das Endprodukt. Eigentlich war ich auf mich alleine gestellt, aber wenn ich gemerkt habe, dass die Regisseur*innen Interesse hatten, dann hatte ich Freude und arbeitete mit ihnen zusammen. Man kann immer jemanden gebraucht, der*die schlauer ist, der*die Einwände bringen kann. Sonst hat man das Gefühl, man sei der ‹Siebensiech›.» Geissbühler verdichtet Theaterstücke, Opern oder kulturelle Ereignisse in ein einziges Bild, das sich einprägt. 

Die Plakate sind, farbig, froh und immer anders. Er kondensiert die Proben, trägt Fragmente mit, zeigt Indizien. Eine einsame Bank für Werther, ein Schneesturm bei Schneewittchen, ein Blitz für Rigoletto, ein roter Würfel bei Maria Stuart, eine Steinwüste für Elektra. Geissbühler trägt Requisiten bildlich von der Bühne der Oper auf die Strassen von Zürich. Die stehen dann für kurze Zeit an den Tramhaltestellen. Im Verlauf mit seiner Zusammenarbeit mit dem Opernhaus gestaltet Geissbühler auch Bühnenbilder. «Das war ein Sprung ins kalte Wasser. Mit Materialitäten und Ebenen kannte ich mich gar nicht aus», sagt er. Für das Spoerli-Ballett «Der Narziss» arbeitet Geissbühler mit grossen blauroten Neonröhren. 

Fast wie dicke Pinselstriche durchziehen sie die Bühne und bilden sich zum Profil eines Gesichtes zusammen. Dieses erinnert and die schnellen, simplen Handzeichnungen von früher. «Es war ein Arbeiten an der frischen Luft», sagt Geissbühler. Trotzdem kehrt er später wieder mehrheitlich zu den Plakaten zurück. Sein letztes zeichnet er 2012 für die Zürcher Festspiele. Im Atelier zeigt Geissbühler auf den Aufschlag vom Juli 1959, der auf dem grossen Tisch vor ihm liegt. Ein gemaltes Porträt auf blauem Hintergrund. «Der hier träumt», sagt er. «Wenn man heute noch träumen kann, ist das gut. Aber dafür braucht man seine eigene Ecke. Das muss ja nicht das Zeichnen sein, aber für mich war es das.»

Karl Domenic Geissbühler, geboren 1932 in Winterthur, malt in den 1950ern für den «Zürcher Student». Er besucht die Grafikfachklasse an der Zürcher Kunstgewerbeschule. Später zeichnet er Jahrzehnte lang Plakate für kulturelle Institutionen wie das Stadttheater Luzern oder das Opernhaus Zürich.