Warum ich es mir immer zweimal überlege, in die Bibliothek lernen zu gehen
Während der Lernphase wimmelt es in den Bibliotheken von Studierenden. Wer sich einen Platz ergattern will, muss früh morgens hin und dann zeitweise sogar anstehen. Da fängt das Problem schon an: Ich bin ein Abendmensch. Wenn ich mich dann mal überwunden haben sollte, früh aufzustehen und meine sieben Sachen auf einen der Tische der Bibliothek stelle, blinkt mein Handy auf: «Hey, bist du auch im Deutschen Seminar?» An dieser Stelle sei einem geraten, zu einer Notlüge zu greifen und zu verneinen. Doch im Vergleich zum ewig langen Paper bietet die Kafi-Zigi-Pause eine gute Alternative. Es folgt der übliche Uni-Prüfungsstress-Smalltalk: «Es ist stressig.» «Ja, ich habe noch viele Abgaben.» «Nein, ich habe noch nicht alle Vorlesungen gestreamt.»
Nach einer halben Stunde beschliesst man, sich wieder den ernsten Dingen des Lebens, das heisst, der immer länger werdenden To-Do-Liste zuzuwenden: «The Two Facets of Social Policy Preferences». Es ist schon bald Mittag. «2’451 Personen sind online», heisst es auf OLAT. Der Herr am Fenster fühlt sich gar sehr wohl und hat seine Schuhe ausgezogen. Mein Tischnachbar ist eingeschlafen. Manchmal zuckt er zusammen, hebt den Kopf und beantwortet Whatsapp-Nachrichten auf seinem Laptop. Kurze Zeit später nickt er wieder ein. Er ist wohl einer derjenigen, die hierher kommen, um sich vom Alltag abzukapseln. Und es gibt diejenigen, die hierher kommen, fürs Sehen und Gesehenwerden: Eine junge Frau stolziert zwischen den Tischreihen wie auf dem Catwalk bis zur Türe.
Erst in der Stille entfalten Geräusche ihre volle Wirkung: Knacken, Rascheln, Flüstern. Vor mir hat ein Student Platz genommen. Es ist der Schönling, den ich im Gymnasium immer heimlich anhimmelte. Wie die Zeit vergeht. Ein Wiedersehen. Was er wohl studiert? Knacken, Rascheln, Flüstern. Im 15-Minuten-Takt steht jemand auf. Es wäre besser gewesen, wenn niemand etwas von der Pomodoro-Technik gehört hätte, wonach man alle 25 Minuten eine Pause einlegen sollte. «Klack!»: Mate-Dosen werden geöffnet, Stühle gerückt. Für den Semester-Endspurt wurden zusätzliche Tische zwischen die anderen geschoben. Wir brüten über unseren Laptops und versuchen dem lockenden Smartphone zu entkommen. Wir haben ein gutes Gewissen, da wir hier sitzen wie brave Studierende. Abends bereuen wir, nicht am Letten gesessen zu haben, da der Tag doch nicht sonderlich produktiv war. «3’236 Personen sind online» auf OLAT. Geteiltes Leid ist halbes Leid! Es ist Nachmittag, es ist warm. In den Bibliotheken ist es immer zu warm.
Trotz all dem werde ich mir heute Abend überlegen, mich morgen in die bib zu wagen