Frei durch maximale Ungeniertheit

Kulturspalte

10. April 2023

Album – Als die Gruppe 100 gecs 2019 ihr Debütalbum mit dem Titel «1000 gecs» veröffentlichten, brauchte man sich nicht erst zu fragen, ob das jetzt ein Witz sein sollte, sondern nur, auf wessen Kosten er gehen sollte. Alle paar Sekunden sprangen diese bizarren Stücke zwischen Genres hin und her, so dass einem schnell schwindlig werden konnte. Eine gewisse, gezielt eingesetzte Lo-Fi-Schäbigkeit, aggressiver Autotune-Einsatz, explosive Intensität und ein ausserordentlich cleveres Gespür für befremdliche Eingängigkeit hielten das Ganze gerade noch so zusammen.

Das neue Album mit dem folgerichtigen Titel «10'000 gecs» bewegt sich immer noch auf dem gleichen Terrain, auch wenn die Extreme vielleicht nicht mehr ganz so schroff aufeinanderprallen. Schon beim ersten Stück «Dumbest Girl Alive» – in dem es textlich auch tatsächlich darum geht, nicht besonders schlau zu sein – weiss man, woran man ist: Speckige Hardrock-Gitarren mit einem halb bei Slayer abgekupferten Riff, Gameboy-Gedudel, klebriger Elektrobass, Intermezzos mit Akkustikgitarren, dick aufgetragene Club-Pop-Vocals. Gelegentlich übersteuert’s, und nach kaum mehr als zwei Minuten ist auch schon Schluss. So geht es dann auch weiter: «Hollywood Baby» ist mit Autotune-Plastik überzogener Pop-Punk, auf «Frog on the Floor» bekommt man etwas belämmerten Ska, dann Rap-Metal auf «Bily Knows Jamie». «I Got My Teeth Removed» fängt als Rock-Ballade an, wird dann Ska und ist eigentlich ein Kinderlied.  

Das sind keine Imitationen, schon gar keine liebevollen. Der Zugriff auf alle möglichen Genres der Populärmusik hat keine nostalgische Sensibilität, keine Romantik. Die Aneignung des Alten hat ein rabiat anti-nostalgisches, in gewissem Sinn Anti-Retro-Ethos. Sie ist frei durch maximale Ungeniertheit. Wenn alle denken würden, die Geschichte – die der Musik oder sonst irgendeine – sei zu Ende, es habe sie mal vor unserer Zeit gegeben, aber jetzt sei längst Schluss damit, dann würde ihre Popmusik wahrscheinlich so klingen wie 100 gecs. Die Geschichte wäre dann nur noch eine Müllhalde, auf der man allerlei Zeug finden kann, mit dem man sich gegenseitig in wilden Spässen bewerfen könnte.

«10,000 gecs» von 100 Gecs ist am 17. März beim Label Dog Show erschienen und lässt sich auf den gängigen Streaming-Plattformen anhören.