Polyvinyl Records

Aufzeichnungen aus der Geisterbahn

Kulturspalte

7. März 2023

Genug Künstler*innen versuchen, irgendwo zwischen Avantgarde, Pop und fürs ungeübte Ohr teilweise verstörenden Genrenischen zu balancieren. Aber bei wenigen klingt es so wie bei Xiu Xiu, als kämen diese musikalischen Tendenzen alle aus der gleichen Quelle. Deswegen wirkt ihre Diskographie nicht fahrig, auch wenn sich dort alles Mögliche findet, etwa Kollaborationen mit Harsh-Noise-Künstlern wie Merzbow, Tracy-Chapman-Cover, Versatzstücke traditioneller Musik aus Bali und Indonesien und Neuvertonungen des Twin-Peaks-Soundtracks. Den gemeinsamen Nenner bieten eine Stimmung der Verzweiflung und in den teils kryptischen Texten ein Fokus auf unbequeme Themen: Tod, Gewalt, Depression, Ressentiment, Angst. Das könnte wie Schock als Selbstzweck wirken, wenn den Stücken nicht die Suche nach der klanglichen Bewältigung eingeschrieben wäre, die Mühe, den Sujets gerecht zu werden.

Auch das neue Album «Ignore Grief» wartet mit hartem Tobak auf: Suizid, Zwangsprostitution, Mord, alles ohne Happyend. Musikalisch ist es schroff und schliesst im Verzicht auf eingängige Melodien eher an vergangene Werke als an den bekömmlichen Vorgängern an. Streicher und ein bedrohlich pulsierender Industrial Noise wechseln sich ab, während Jamie Stewart und Angela Sao, die Kernmitglieder von Xiu Xiu, sprechen oder singen. So bekommt die Stimme der Multiinstrumentalistin und Produzentin Sao mehr Raum als sonst. Ihr Sprechschauspiel bildet einen willkommenen Kontrast zu Stewarts virtuosem Pathos.

Schon der Opener «The Real Chaos Cha Cha Cha» zeigt, dass mit dem Album nicht gut Kirschen essen ist: Schneidende Lärmflächen dominieren das Stück, während Sao murmelt, als verstecke sie sich unter einem Tisch und führe Selbstgespräche. Eines der Highlights, «Esquerita, Little Richard», erinnert mit seinem leiernden Beat von weitem an Krautrock, bis es mit einem Synthie aus den Coldwave-Katakomben der 80er ausklingt. Die Vorabsingle «Maybae Baeby» kontrastiert wuchtige Lärmflächen mit einem für die  Band typischen Einschlag südostasiatischer Gamelan-Musik.

Auch die stilleren Stücke bleiben in der dunklen Melasse aus üblen Vibes: «Pahrump» ist ein Chanson aus der Eisernen Jungfrau, angereichert mit einem sehnigen Free-Jazz-Saxophon, und zerfasert in einen stehenden Ton; die Suggestion eines Verstummens. «Dracula Parrot, Moon Moth» ist durchzogen von Stewarts Wimmern und dissonanten Streichern und Bläsern, dürr wie Spinnenbeine.

Orthographisch entstellte Titel und eingeflochtene Phrasen wie «Whatever will be, will be» registrieren die Banalität des Leids. Elend adelt nicht, es entwürdigt. Die Welt, die Xiu Xiu zeichnen, ist eine ewige Geisterbahn, eine Folterkammer ohne Ausweg. Ob das kindisch, mutig, irrig oder interessant ist, lässt sich nicht leicht bestimmen. Aber es geht ein Sog von diesen schwarz auf schwarz gemalten Bildern aus. Trotz der scheinbaren Kargheit ist «Ignore Grief» nicht minimalistisch, sondern ein forderndes, wunderbar detailliertes Stück Musik. Wer nach einem Einstieg ins Oeuvre der Band sucht, dürfte allerdings mit Song-orientierten Alben wie «A Promise» oder «Fabulous Muscles» besser bedient sein.

«Ignore Grief» ist am 3. März bei Polyvinyl Records erschienen und ist auf den gängigen Streamingplattformen erhältlich.