Ritalin gilt als Wundermittel. Doch hält die Pille, was sie verspricht?

Ritalin in aller Munde

An der Universität wie im Netz: ADHS ist heute so präsent wie noch nie. Doch wo endet der Trend und wo beginnt die Störung? Betroffene erzählen und eine Psychiaterin ordnet ein.

17. November 2025

Im Zeitalter der sozialen Medien beschränkt sich die Aufmerksamkeitsspanne vieler auf die Länge eines Tiktoks. Auf den Plattformen erhält man in kurzen Videos auch gleich die passende Erklärung für das verminderte Konzentrationsvermögen. Eine Online- Selbstdiagnose später meldet man sich für eine ADHS-Abklärung an. Noch nie stand die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung so im Rampenlicht wie in den letzten Jahren. Zunehmende Diagnosen lassen sich an den steigenden Ritalin-Verschreibungen beobachten. Im Jahr 2023 wurden in der Schweiz über doppelt so viele Tagesdosen wie im Jahr 2016 verschrieben. Die Verordnungen für Erwachsene haben sich seither beinahe verdreifacht, wie die Daten des Schweizer Versorgungsatlas zeigen. Eine Meinung zum Thema hat jede*r. Früher sprach man von der Zappelphilipp-Störung der Kleinkinder. Heute ist sie verspottet als Trendkrankheit oder als Superkraft gehyped. 

Liebesbrief Ritalin 

Aber was macht die Störung in Wirklichkeit aus? Ana Buadze erklärt, wie die klinische Diagnose gestellt wird. Sie ist Psychiaterin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Leiterin des Spezialambulatoriums für ADHS in Oerlikon. Grundsätzlich handle es sich um drei Kernsymptome: Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsprobleme. Begleitet werden diese oft von diversen Nebensymptomen wie starken Stimmungsschwankungen, emotionaler Überreagibilität und Desorganisation. Entscheidend seien dabei die Stärke, Frequenz und das Fortbestehen dieser Symptome über die Lebensspanne hinweg. «Nur weil jemand mal etwas verloren oder vergessen hat, heisst das noch lange nicht, dass diese Person ADHS hat. Betroffene sind im Leben deutlich eingeschränkter », erklärt Buadze. 

Patient*innen berichten, sie würden mehrere Stunden pro Woche verlieren, weil sie verlegte Gegenstände suchen. Sie würden Termine verpassen, Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen erhalten und könnten durch die Erkrankung in finanzielle Schwierigkeiten geraten. ADHS könne das Leben aber noch in weitreichenderer Weise beeinträchtigen: «Häufig treten zusätzlich Begleiterkrankungen wie Angststörung, Depression oder Substanzmissbrauch auf.» Zudem zeigen Studien, dass Betroffene ein erhöhtes Unfallrisiko aufweisen, etwa im Strassenverkehr, sowie eine insgesamt reduzierte Lebenserwartung. 

Die Annahme, ADHS sei eine Trendstörung, lehnt Buadze ab. Studien zeigen, dass ADHS zu 50 bis 80 Prozent genetischen Ursprungs ist. In Wahrheit sei die Diagnose nicht so häufig wie von vielen erwartet: «Die Prävalenz bei Erwachsenen liegt bei etwas mehr als drei Prozent. Nicht jede*r hat ADHS.» Auch dass ADHS eine «Superkraft» sein soll, bestätige sich in ihrer klinischen Arbeit nicht. Das wohl bekannteste Medikament im Zusammenhang mit ADHS heisst Ritalin. Dabei handelt es sich um einen Markennamen. Leonardo Panizzon, ein Chemiker aus Basel, synthetisierte das Medikament 1944 als Erster. Der Name ist eine Ode an seine Frau Marguerite, «Rita», die es gelegentlich zum Tennisspielen verwendete. Es gibt viele verschiedene Präparate mit unterschiedlichen Wirkstoffen, die zur Behandlung eingesetzt werden. Die beliebtesten davon sind Methylphenidate, die auch in Ritalin verwendet werden, und Amphetamine. Anders als damals gelten sie heutzutage als Betäubungsmittel und sind streng rezeptpflichtig. Viele sehen das Medikament in einem kritischen Licht als Doping- oder Ruhigstellungsmittel der Bevölkerung, während andere glauben, dass sich anscheinend alle Arbeit durch das Wunderheilmittel ersetzen lässt. In Wirklichkeit ist die Wirkung ambivalent und individuell. 

Lea studiert Politikwissenschaften an der Uni Zürich. Vor einem halben Jahr erhielt sie ihre ADHS-Diagnose und nimmt seither täglich Medikamente. Die Diagnose helfe ihr dabei, sich selbst besser zu verstehen: «Mir hilft es sehr, Dinge mit Labels einzuordnen. Ich weiss jetzt, dass ich nicht faul bin und kann mir für meine Schwierigkeiten auch besser vergeben.» Die begleitende Medikation erleichtert Lea den Alltag. Zum Beispiel dabei, Wäsche zu waschen, Menschenmengen zu bewältigen, aber auch einfach, um am Morgen den Tag antreten zu können: «Es gibt immer noch Tage, an denen wache ich auf und es ist einfach alles schlimm. Nach der Einnahme des Medis merke ich dann, dass gar nicht alles schlimm ist, sondern normal.» Besonders hilfreich ist das Medikament vor allem darin, ihr die innere Unruhe zu nehmen. 

Auch der Psychologiestudent Darius nimmt täglich Medikamente gegen sein ADHS. Die Störung macht sich in seinem Alltag stark bemerkbar. Neben seiner Mühe mit Konzentration, Organisation und Zeitmanagement leidet auch sein Sozialleben unter dem Syndrom: «Ich bin der Freund, der manchmal nichts mehr von sich hören lässt oder länger nicht zurückschreibt, weil mich das einfach überfordert.» Bei der Einnahme verspürt Darius einen euphorisierenden Effekt. Die Medikation unterstützt ihn dabei, sich zu konzentrieren. Momentan ist das Studium jedoch der einzige Teil seines Alltags, der sich dadurch erleichtert hat. 

Für den nötigen Putsch 

Medikation ist jedoch nicht nur im Leben von Studierenden mit ADHS-Diagnose ein Thema. Im Stress der Lernphase kommt es vor, dass Studierende am Frühstückstisch statt zur Kaffeetasse zum Medikament greifen. In einem Gespräch erläutern zwei Studierende, warum sie auch ohne ADHS-Verdacht mit der Arznei experimentieren. Ada* studiert Politikwissenschaft. Ihr Konsum beschränkt sich auf besonders anspruchsvolle Bereiche des Studiums, wie die Lernphase. Verdacht auf ADHS hat sie nicht: «Ich habe lange mit einer betroffenen Person gelebt und gemerkt, wie unterschiedlich unsere Leben deshalb sind.» Das Ritalin helfe ihr vor allem dabei, länger zu lernen. Der Energieschub geht aber Hand in Hand mit Nebenwirkungen. Konträr zu Leas Erfahrungen kommt in ihr erst durch die Anwendung des Medikaments eine innere Unruhe auf. Zudem verschwindet ihr Hungergefühl, und an schlechten Tagen wird sie fast traurig, wenn die Wirkung nachlässt. Paulo* hat letztes Semester zum ersten Mal Ritalin während seines BWL-Studiums ausprobiert. Er vergleicht die Wirkung mit der von Koffein. «Ich habe mich auch schon beim Gedanken erwischt, ob ich vor dem Feiern statt eines starken Kaffees eine halbe Kapsel nehmen soll.» Das Suchtpotential der Tablette habe er auf jeden Fall gespürt. 

Nur ein Mythos? 

Ana Buadze warnt vor dem Missbrauch von ADHS-Medikamenten. «Stimulanzien haben klare Nebenwirkungen auf das Herz-, Kreislaufsystem und können gefässverengend wirken. Theoretisch könnten die Medikamente den Blutdruck erhöhen und bei Menschen mit Vorerkrankungen bis zum Herzinfarkt führen.» Deshalb seien bei Patient*innen mit ADHS auch eine vorangehende Aufklärung, ein EKG, Blutdruckmessungen und Labortests erforderlich, bevor eine Medikation begonnen werde. Zudem sollen die Stimulanzien laut einer australischen Studie aus dem Jahr 2023 die Leistungen der Nicht-Betroffenen nicht einmal bedeutend verbessern. Gemäss den Forschungsergebnissen verbessert der Konsum vor allem die Motivation und den Eifer, die die Probanden in die Aufgaben stecken. Die Qualität der Problemlösung nimmt jedoch ab. 

«Wir haben doch alle ein bisschen ADHS», solche Aussagen hören Betroffene ständig. Lea und Darius sind sich einig darüber, wie sich der Diskurs in Zukunft entwickeln soll. Eine informierte Diskussion soll an die Stelle solch minimierender Aussagen treten. Ana Buadze appelliert ebenfalls an eine fundierte Aufklärung durch Fachpersonen: «Es ist wichtig, dass wir Expert*innen die Information über die Erkrankung nicht den Tiktokern und Instagrammern überlassen, die mehrheitlich Halbwahrheiten und falsche Angaben verbreiten.» Am Ende würden wieder die Betroffenen darunter leiden, ergänzt sie – und das sei nicht gerecht. 

*Namen von der Redaktion geändert