Seit ihrer Flucht lebt Kholoud nun in Genf und möchte ihrer Community helfen.

«Gaza bleibt mein Zuhause»

Mit zehn Jahren musste sie ihre Heimat zum ersten Mal verlassen. 17 Jahre später studiert sie in Genf und möchte auf palästinensische Geschichten, Erfahrungen und Leiden aufmerksam machen.

Jan Stampfi (Interview) und Alexandre Bourquin (Mit zehn Jahren musste sie ihre Heimat zum ersten Mal verlassen. 17 Jahre später studiert sie in Genf und möchte auf palästinensische Geschichten, Erfahrungen und Leiden aufmerksam machen.)
17. November 2025

Kholoud, du bist in der Al-Nasser-Nachbarschaft in Gaza-Stadt aufgewachsen. Woran erinnerst du dich am liebsten?

An das Meer. Ich konnte es von meinem Fenster aus sehen. Egal ob ich traurig war oder Spass haben wollte, dort war ich geborgen. Im Sommer gingen wir jeden Freitag als Familie dort schwimmen und grillen. In Gaza gibt es die Tradition, dass man eine Wassermelone im Sand verbuddelt, um sie kühl zu halten. Am Ende des Tages können die Kinder dann Schatzsuche spielen, das war immer sehr lustig.

Du musstest seit deiner Kindheit bereits mehrfach fliehen. Wie hast du das erlebt?

Meine erste Flucht war im Jahr 2008, da war ich 10 Jahre alt. Es ging alles so schnell, die Flugzeuge, die Angst in den Augen, meine Mutter, die uns versuchte zu beruhigen. Ich konnte das alles nicht einordnen. Seit Beginn des Genozids musste ich bereits elfmal innerhalb von Gaza fliehen. Als wir am 11. Oktober 2023 unser Zuhause verlassen mussten, hoffte ich, nach kurzer Zeit wieder zurückzukehren und habe deshalb nur das Nötigste eingepackt. Eines Tages wollte ich zurück, um wenigstens eine Erinnerung mitzubringen. Von unserem Zuhause war nichts mehr übrig ausser Asche und Staub.

Hat sich dein Konzept von «Zuhause» durch deine Fluchterfahrungen geändert?

Zu diesem Zeitpunkt unterbricht sie das Interview: Ein Notfall bei ihrer kleinen Schwester. 

Früher war Zuhause für mich ein physischer Ort. Jetzt fühlt sich jeder Ort, der mich willkommen geheissen hat, wie Zuhause an. Ich fühle mich verbunden zu allen Menschen, die mir Schutz vor den Bomben gaben. Meine Familie lebt jetzt in einem Zelt, aber selbst in dieser schlimmen Situation erschaffen sie schöne Erinnerungen und Sinn. Zwei Tage nachdem sie das Zelt aufgebaut hatten, haben sie ein Fest gefeiert! Es war der Geburtstag meines Bruders und meine Schwester hatte erfolgreich ihre Bachelor-Arbeit verteidigt. Unser Leiden hat mir beigebracht, die kleinsten Dinge unglaublich zu schätzen: Einen Wasserhahn, einen Esstisch, ein Zimmer, ein Bett, Privatsphäre. Erst jetzt sehe ich die Bedeutung in jedem Detail. Im aktuellen Genozid wird versucht, alles zu löschen. Das Ausleben unserer Kultur ist für uns somit zentral, um in den dunkelsten Zeiten Momente des Glücks zu finden. Natürlich bleibt mir auch die Verbundenheit zu meiner Heimat. Gaza wird sich immer nach Zuhause anfühlen. Dort gehören wir hin.

Wie muss man sich das vorstellen: Studieren in einem Genozid? 

Mittlerweile sind alle Universitäten zerstört, 95% der Schulen liegen in Trümmern. Der Unterricht fiel nach den Angriffen vom 7. Oktober schlagartig aus. Am Anfang war die Bombardierung so intensiv, dass niemand an Bildung denken konnte. Nach dieser ersten Periode hatte es das IDF auf einflussreiche Universitäten und Professor*innen abgesehen. Auch unsere Bibliothek wurde vollständig verbrannt. Die Angriffe sind ein Versuch, unsere Identität und Bildung auszulöschen. Dieses Vorgehen wird «Scholasticide» genannt. Die wissenschaftliche Dokumentation von solchen Kriegsverbrechen und solchem Leid ist enorm wichtig, um Ungerechtigkeit anerkennen zu können und diese irgendwann als Gesellschaft zu verarbeiten. Wir mussten uns an Hoffnung klammern, immer weiter lernen, unterrichten und inmitten von Ruinen träumen. Heute findet Unterricht online oder in Zelten statt. Das funktioniert, auch wenn es hart ist. Der Zugang zu Strom und Internet ist sehr limitiert. Die Hälfte der Studierenden und unzählige Professor*innen sind tot.

Deine Familie lebt immer noch in Gaza, wie hast du dich für die Flucht entschieden?

Vor Beginn des Genozids war ich neben der Uni Lehrerin und gab Englischkurse. Nachdem ich mehr als ein Jahr lang nichts getan hatte, als um mein Überleben zu kämpfen, musste ich wieder etwas Sinnstiftendes tun. Durch den Verlust meiner Liebsten, meinen Büchern, meinem Zuhause, die Liste geht ewig weiter, durchlebte ich so vielen Phasen von Trauer gleichzeitig, dass mein Kopf völlig leergefegt war. Ich konnte kaum noch einen Satz formulieren, also musste ich etwas ändern.

Und wie kamst du in die Schweiz?

Dass ich einmal hier sein werde, hätte ich nie gedacht. Bisher hatte ich Gaza nie verlassen, hatte nie gewagt, ausserhalb der Grenze zu träumen. Gaza ist wie ein Käfig, du träumst nur in ihm. Erst meine Freundin Julie, die in der Schweiz lebt und in der Organisation «Alama» engagiert ist, hat mich auf die Idee gebracht, hierher zu kommen. Ohne die unermüdliche Hilfe von ihrer Seite wäre die Ausreise nie möglich gewesen. Auch meine Sprachkenntnisse spielten tatsächlich eine zentrale Rolle im ganzen Prozess. Ich hatte an der Al-Quds Open University in Gaza Englische Sprache und Literatur studiert. Nur dadurch lernte ich Julie kennen, die mich bei der Flucht unterstützte.

Nun lebst du in einem sicheren Land, dass gleichzeitig Komplize im anhaltenden Genozid ist.

Für mich ist es sehr schmerzhaft, dass das Land, in dem ich Sicherheit gefunden habe, auch zum Leiden meiner Familie beiträgt. Ich versuche mich aber auch hier auf das Positive zu fokussieren. Es gibt so viele Menschen, die sich betroffen fühlen, handeln und eine Veränderung wollen. Das dauert eben, es sind ja nicht einzelne Menschen, die diese schreckliche Situation verantworten, sondern es ist ein ganzes System. Trotzdem, der Schmerz und die Wut in meinem Herzen verblassen nicht. Ich versuche aber, diese Emotionen in etwas Gutes, in Entschlossenheit und Solidarität zu verwandeln. Ich will, dass alle Menschen als Menschen gesehen werden, nicht als Nummern. Dafür kämpfe ich, je härter es wird, desto stärker.

Wie wird die Solidaritätsbewegung in Gaza selbst wahrgenommen?

Im ersten Jahr kaum. Doch mit der Zeit bekamen die Palästinenser*innen mehr davon mit. Das gab uns Hoffnung. Die Solidarität zu sehen, gab uns das Gefühl, nicht vergessen zu werden und dass unser Schmerz geteilt wird. Es hat uns daran erinnert, dass Gerechtigkeit immer noch eine Stimme hat.

Hoffst du darauf, mit deinem Studium auch diese «Stimme der Gerechtigkeit» zu übersetzen? 

Das ist eines meiner grössten Ziele. Sprache hat die Fähigkeit, Herzen zu verbinden und zu heilen. Ich habe bereits mitgeholfen, ein Kinderbuch über palästinensische Kinder zu übersetzen. Ich hoffe, dass Menschen unsere Leben so sehen können, wie wir es erleben, nicht nur durch Schlagzeilen. Ich versuche, kleine Details zu erzählen, die uns endlich wieder menschlich erscheinen lassen. Auch wir Palästinenser*innen sind schwache, fragile und emotionale Wesen, so wie alle Menschen.

Die Organisation Alama hat Kholoud bei der Flucht geholfen: https://en.alama.ch/donate