Verlegt und doch nicht vergessen
Jil Erdmann verlegt vergriffene Bücher von Frauen neu und sorgt damit für mehr Ausgewogenheit im Schweizer Literaturbetrieb. Im Gespräch mit der Gründerin über den Verlag sechsundzwanzig, Schreib- und Lesetrends von FLINTA-Personen und weshalb feministische Literatur allen gut tue.
Vor 15 Jahren arbeitete Jil Erdmann in einer Buchhandlung. Tag für Tag packte sie Lieferungen aus, sortierte Bücher in die Regale, las die Klappentexte der Neuerscheinungen, liess die Namen der Autor*innen auf sich wirken und wunderte sich. Sie begann zu zählen: Autor, Autor, Autor – da, endlich, eine Autorin. Dieses Ungleichgewicht fiel ihr immer wieder auf. Es war kein Einzelfall, sondern ein Muster. Bestsellerlisten, Literaturpreise, prominente Neuerscheinungen – überall waren männliche Stimmen präsenter.
Erdmann wollte dem nicht mehr tatenlos zuschauen, sie wollte handeln. Sie wollte einen Raum schaffen, in dem auch andere Perspektiven Platz fanden. So entstand die Idee für einen eigenen Verlag: den Verlag sechsundzwanzig. Er hat die klare Mission, nämlich FLINTA-Personen im Literaturbetrieb mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Doch die Idee, marginalisierten Stimmen Raum zu geben, ist nicht neu. Sie knüpft an eine Tradition feministischer Verlagsarbeit an, deren Ursprung 50 Jahre zurückliegt.
Ein Gefühl der Unausgewogenheit
Erdmann wusste früh, dass Bücher ihr Leben prägen würden. Ihre berufliche Laufbahn begann sie mit einer klassischen Buchhändlerlehre, die ihr den ersten tiefen Einblick in die Literaturbranche ermöglichte. Die Menschen, die Literatur, die tägliche Arbeit – all das verstärkte ihre Leidenschaft für Bücher. Doch schon damals, noch während der Ausbildung, spürte sie eine Unausgewogenheit. «Damals hatte ich noch nicht die Worte dafür», sagt sie heute. «Aber ich wusste, dass ein Ungleichgewicht herrscht, was die Repräsentation der Geschlechter betrifft.» Dieses Gefühl begleitete sie über Jahre.
Nach ihrer Ausbildung wechselte sie den Arbeitsplatz, blieb aber in der Branche. Schliesslich landete sie in einem Zürcher Verlag und war dort im Vertrieb tätig – eine Aufgabe, die sie mit Begeisterung erfüllte. Doch Erdmann sah auch, wie selektiv die Mechanismen des Literaturbetriebs funktionieren. Hier wurde entschieden, welche Bücher in Buchhandlungen kamen, welche Autor*innen sichtbar wurden – und welche nicht. Das Gefühl der Einsitigkeit blieb. Heute hat sie eine Sprache dafür gefunden.
Dass sie einmal einen eigenen Verlag gründen würde, war für Erdmann lange eine vage Idee, ein Gedanke, der sie begleitete, aber nie konkrete Formen annahm. Bis sie auf ein Buch aus den 1980er-Jahren stiess: «Frauen erfahren Frauen». Die Herausgeberin, Ruth Mayer, war eine der ersten Frauenverlegerinnen der Schweiz. Erdmann begann zu recherchieren, tauchte tief in Archive ein, sprach mit Zeitzeug*innen und stellte fest, dass Mayers Verlagsarbeit kaum dokumentiert war.
Ein Literaturverlags-Hub in Zürich, der in den 1970ern florierte, war in Vergessenheit geraten. «Für mich war das bezeichnend», erzählt Erdmann. «Es war eine so aktive, vernetzte Szene – und trotzdem wurde kaum darüber gesprochen. Ich wollte diese Tradition weiterführen und in die heutige Zeit bringen.» Sobald der Funke gezündet war, ging alles schneller als erwartet – und so wurde der Verlag sechsundzwanzig geboren.
Zwischen Sicherheit und Experiment
Der Verlag ist eine Herzensangelegenheit, aber keine Haupteinnahmequelle. Erdmann arbeitet weiterhin in einer Buchhandlung, jedoch nur noch Teilzeit. «Das gibt mir Sicherheit», erklärt sie. «Und beim Verlag kann ich ausprobieren und gestalten.» Sie geniesst die Abwechslung zwischen der stabilen Welt des Buchhandels und dem kreativen Freiraum des Verlags. Als Verlegerin durchläuft sie alle Stationen eines Buches: Manuskriptlektüre, Auswahl, Lektorat, Vertrieb, Pressearbeit – sie ist eine Allrounderin, die die volle Kontrolle über ihr Programm hat. Doch diese Freiheit hat ihre Grenzen. Die Anzahl der Publikationen bleibt begrenzt, nicht jedes Manuskript kann berücksichtigt werden.
«Es muss eine rationale Entscheidung geben», sagt Erdmann. «Oft fehlen einfach die Ressourcen.» Zwei Bücher im Jahr veröffentlicht sie. Die Themen? Zeitgenössisch, feministisch, reflektierend. «Ich wollte Räume für FLINTA-Personen schaffen, weil es diese Räume in der Literaturgeschichte oft nicht gegeben hat», sagt sie. Schreibende Frauen seien in der Literaturgeschichte schon zu oft untergegangen. «Ich bekomme drei bis fünf Manuskripte pro Woche», erzählt sie. «Viele davon sind autofiktionale Texte von FLINTA-Personen, Erfahrungsberichte. Das ist ein deutlicher Trend.» Dennoch entscheidet sie genau, was ins Programm passt.
Wer zu bestimmen hat, was gelesen wird, beschäftigt Erdmann seit Langem. Sie weiss, dass Literaturproduktion eine lange Kette von Entscheidungen ist. Ein Buch muss nicht nur geschrieben, sondern auch verlegt, beworben und in Buchhandlungen aufgenommen werden. Und jeder dieser Schritte beeinflusst, was am Ende gelesen wird und welchen Platz ein Werk in der literarischen Öffentlichkeit einnimmt.
«Wenn man in eine Buchhandlung geht, liegen da drei Bücher von Frauen und sieben von Männern. Da stimmt doch etwas nicht», dachte sich Erdmann schon vor 15 Jahren – und denkt es heute noch. Allerdings gibt sie zu, dass sich in der Zwischenzeit einiges verbessert hat. Seit sie den Verlag 2020 gründete, sei eine Veränderung spürbar, auch wenn es weiterhin Ungleichheiten gibt. Ob sie den Verlag heute mit den gleichen Kriterien gründen würde? «Vielleicht», überlegt sie. «Aber wahrscheinlich ein wenig abgeschwächter, weil sich die Situation doch ein wenig verbessert hat.»
Die Zukunft des Verlags
Nach fünf Jahren Verlagsarbeit steht Erdmann an einem Punkt der Reflexion. Soll sie ihr Programm ausbauen? Gleich zwei Debüts sind für dieses Jahr geplant. Langfristig könnte sie sich vorstellen, Unterstützung ins Boot zu holen – aber einen grossen Verlag will sie nicht. «Weil sie zu hoch hinauswollen, geraten viele Verlage in wirtschaftliche Zwänge, aus denen sie kaum herauskommen», sagt sie. «Das möchte ich vermeiden.» Ein langsames, nachhaltiges Wachstum wäre ihr lieber: mehr Unterstützung, mehr Bücher, eine breitere Leserschaft.
Bücher über und von FLINTA-Personen werden generell häufiger von FLINTA-Personen gelesen, die Buchvernissagen überwiegend von ihnen besucht. «Es wäre schön, wenn alle diese Bücher lesen würden», sagt Erdmann. «Das würde einigen gut tun.» Doch sie merkt einen Wandel. Auch in ihrem männlichen Kollegenkreis wächst das Interesse an feministischer Literatur. «Mehr und mehr Männer passen ihr Leseverhalten an», erzählt sie. Was sie sich für die Literaturbranche wünscht? Dass Bücher stärker gefeiert werden – besonders in Form von Lesungen.
«Lesen ist oft eine einsame Tätigkeit», sagt sie. «Aber wenn man aus einer guten Lesung kommt, inspiriert von einer starken Autorin, dann ist das ein besonderes Gefühl.» Ihre Bücher erreichen inzwischen eine breitere Leserschaft. Während bei den ersten Publikationen vor allem Menschen aus ihrem Umfeld zu den Veranstaltungen kamen, tauchen heute häufiger neue Gesichter auf. Ein gutes Zeichen, findet sie. «Ich denke, wir sind auf einem guten Weg«, sagt sie. «Aber es gibt immer noch viel zu tun.»