«Die Lehre kritisch hinterfragen»
Eine Gruppe Studierender unterrichtet am Architekturdepartement ein Wahlfach. Sie hinterfragen bestehende Lehrparadigmen und suchen alternative Lernräume.
Was ist «Unmasking Space»?
«Unmasking Space» wurde von Studierenden des Fachbereichs Architektur an der ETH Zürich ins Leben gerufen. Unser Ziel ist es, die etablierten Paradigmen der Lehre kritisch zu hinterfragen und alternative Perspektiven zu beleuchten, die an der Institution bislang oft zu wenig Beachtung finden. Wir bieten ein Wahlfach an, das jede Woche stattfindet. Es soll ein Raum für Austausch und gemeinsames Lernen bieten, der von Studierenden für Studierende gestaltet wird.
Das Thema dieses Semesters lautet «Echoes of the Unseen». Wie kam es dazu?
Im Semester setzen wir uns mit politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen und Minderheiten in der Stadt auseinander. Die etablierten Darstellungsarten der Stadt wollen wir aufbrechen und neue Erzählungen hören. Denn auch wenn etwas ungesehen bleibt, hinterlässt es Spuren oder Echos. Daraus entstand der Name. Uns geht es darum, Machtdynamiken im urbanen Kontext zu entlarven. Inspiriert bei der Themenwahl wurden wir unter anderem von Rebecca Solnit und Joshua Jelly-Schapiro's Buch «Nonstop Metropolis».
Wie sieht der Inhalt des Wahlfachs konkret aus?
Jeweils Donnerstags findet das Wahlfach auf dem Hönggerberg oder je nach Thema auch in der Stadt statt. Letzten Donnerstag zum Beispiel stellte Nathalie Marj ihre Masterarbeit vor. Nathalie ist aus dem Libanon und arbeitet zurzeit für den Lehrstuhl von Charlotte Malterre-Barthes an der EPFL in Lausanne. In ihrer Arbeit ging sie dem Sektarismus in Beirut und seiner räumlichen Implikationen nach. Sektarismus bedeutet, dass Religionsgemeinschaften getrennt voneinander in der Stadt leben. Es gibt in Beirut zum Beispiel muslimische und christliche Quartiere, die parallel exisitieren. Deren bewusste Trennung wird auf einer städtebaulichen Ebene durch Baugesetze oder den Verkauf von Häusern nur innerhalb der Religionsgemeinschaft implementiert. Als Teil ihrer Arbeit hat Nathalie Parzellen in der Stadt gesammelt, die nicht bebaut werden dürfen. Auf diesen «unbuildable lots» schlägt sie Interventionen vor, die Räume schaffen, um den Sektarismus aufzubrechen: Ein privater Generator etwa der neu gemeinschaftlich genutzt werden soll oder ein Platz mit Brunnen für ein gemeinsames Abendessen über die Stadtteile und Religionsgrenzen hinweg. Diese Parzellen sind öffentlich einsehbar, als Archiv potenzieller Räume einer alternativen Stadtvorstellung.
Am Anfang des Semesters habt ihr einen Open Call gestartet. Nach welchen Kriterien habt ihr ausgewählt, wer ein Seminar gestalten darf?
Genau, der Open Call war offen und dementsprechend kamen auch viele spannende Einsendungen. Die Auswahl war anspruchsvoll und emotional. Wir können nur eine begrenzte Menge an Seminaren durchführen. Wir haben uns viel Zeit genommen und während mehreren Sitzungen ein Programm zusammengestellt. Auch die Zeitplanung war herausfordernd – wer hat wann Zeit? Wo arbeiten unsere Referenten*innen? Für die heutige Sitzung konnten wir zum Beispiel zwei Architekt*innen aus London per Zoom zuschalten.
Das Projekt wird von einer Professur unterstützt und finanziert. Inwiefern beeinflusst das eure Freiheit bei der Gestaltung des Kurses?
Wir fühlen uns vom Lehrstuhl sehr unterstützt. Inhaltliche Einschränkungen gab es keine. Der Lehrstuhl unterstützt unser Projekt und wir stimmen unsere Pläne mit ihm ab. Eine Herausforderung besteht jedoch darin, dass Studierende offiziell nicht unterrichten dürfen. Unsere Professorin übernimmt für den Kurs die komplette Verantwortung. Deshalb ist das Vertrauen zwischen uns auch sehr wichtig.
Welche Stärken seht ihr in studentisch geführten Kursen im Vergleich zu traditionellen Formaten?
Vor allem in der Architektur haben wir vollgepackte Stundenpläne mit vielen Abgaben. Es ist manchmal schwierig, sich Zeit zu nehmen, um über Gelerntes zu reflektieren. Unser Wahlfach Kurs bietet die Möglichkeit, einen Schritt zurückzunehmen. Oft wissen die einzelnen Lehrstühle nicht, was die anderen unterrichten. Als Studierende besuchen wir aber verschiedene Vorlesungen und Seminare und lernen viele verschiedene Perspektiven kennen. Wir haben eine horizontale Übersicht über das ganze Department. Das sind Eindrücke, die die Lehrstühle nicht haben – sie sind oft zu spezialisiert in ihrem Gebiet. Die Studierenden können darauf aufmerksam machen, was in der Lehre fehlt. Wir versuchen zudem, neue Lehrmethoden zu erproben: Nicht alle lernen in klassischen Vorlesungen gleich gut. Unsere offene Struktur bietet Alternativen zum etablierten Lehrplan.
Ihr betont, dass ihr den aktuellen Lehrplan der Architekturausbildung in eurem Wahlfach hinterfragt. Wie?
In unserem Wahlfach kommen Studierende an verschiedenen Punkten in ihrem Studium zusammen. Es ist faszinierend, wie schnell eine Gruppe von 20 bis 30 Studenten eine grosse Menge an Wissen sammeln kann und miteinander teilen kann. Das ist sehr bestärkend. Das Kurrikulum hat sich aber in den letzten drei Jahren auch stark verändert. Viele der Themen, die wir ursprünglich vermisst haben, werden langsam aufgegriffen. Wir haben das Gefühl, einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Dennoch bleibt es zentral, die Legitimität von Wissensproduktion zu hinterfragen – insbesondere in der Architektur, die stark von westlichen Denkweisen dominiert ist. Es ist wichtig zu hinterfragen wer entscheidet, was als wertvolles Wissen gilt.
Was für Wissen zum Beispiel?
Zum Beispiel wird in der Architekturgeschichte immer noch zu wenig über Architektinnen gesprochen. Diese Mängel werden nicht genügend kritisch hinterfragt. Unser Ziel ist es, diesen vernachlässigten Perspektiven eine Stimme zu geben. Deshalb laden wir vor allem Gäst*innen ein, die selbst Studierende oder Absolvent*innen sind – ihr Blick auf die Disziplin ist oft ein anderer als der etablierter Professor*innen.