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Kampf der Generationen

Nach der gescheiterten Revolution in Ägypten ist die Jugend frustriert. Doch ist Auswandern eine Lösung?

Karim Khaled Hashem (Text) und Reto Heimann (Übersetzung)
10. Mai 2016

36 Jahre Gewalt, Ungerechtigkeit und Diktatoren. Tragischerweise hat die ägyptische Bevölkerung noch keinen Tag in ihrem Leben so gelebt, wie sie es verdienen würde: in Glückseligkeit. Die ganze Zeit über lebte Ägypten wie ein inaktiver Vulkan, still und ohne jeden Widerstand der Menschen, denen das Land gehört. Bis zum 25. Januar 2011, als die Jugendbewegung sich endlich zusammenschloss, um mit vereinter Kraft das Antlitz der ägyptischen Polizei und des Innenministeriums zu zerschlagen. Nach all dem, was sie in jeder Polizeistation an Gewalt und Folter erleiden musste: Zwischen 2006 und 2010 wurden nur gerade sieben Polizeibeamte vor Gericht der Folter und unmenschlichen Behandlung schuldig gesprochen, obwohl Hunderte aufgrund gleicher Anklagen in Untersuchungshaft sassen. In einem Land, in dem Folter nach wie vor ein ernsthaftes Problem des Systems darstellt, erscheint die Verurteilung von bloss sieben Polizisten in vier Jahren als wahnwitziger Realitätsverlust und lässt hunderte Opfer ohne Gerechtigkeit zurück.

Die ungeheuerliche Anzahl an Vergewaltigungsverbrechen an ägyptischen Frauen, begangen teils auf offener Strasse oder in Polizeistationen, führte 1999 zur Abschaffung eines Gesetzes, das es einem Vergewaltiger ermöglichte, einer Strafe zu entgehen, wenn er sein Opfer nach dem Übergriff heiratete. Bis heute haben Frauen Angst davor, wegen Vergewaltigung Anzeige zu erstatten. Engy Ghozlan vom «Egyptian Centre for Women’s Rights» schätzt, dass jährlich über 200'000 Vergewaltigungsdelikte auf ägyptischem Boden begangen werden. Auch während der Proteste kam es zu öffentlichen Übergriffen: Am 3. Juli 2013 kam es Berichten zufolge zu 91 sexuellen Übergriffen auf dem Tahir-Platz.

Gescheiterte Revolution

Eine unermessliche Anzahl Bestechungs- und Korruptionsaffären erschütterte das Innendepartement und weitete sich auf den gesamten ägyptischen Staat aus. Zurückzuführen war das alles auf Organisations- und Gewissenlosigkeit. Für die Jugend war die Revolution die einzige Lösung.

Nach 18 Tagen erreichte diese ihr wichtigstes Ziel: Den Innenminister und alle, die ihm und der Korruption nahe standen, in die Defensive zu drängen. Später sah sich auch der Präsident zum Rücktritt gezwungen angesichts des riesigen Drucks, welchen die Revolution auf ihn ausgeübt hatte. Ausnahmslos alle Ägypterinnen und Ägypter feierten diesen Tag als Festtag, als Beginn einer neuen Ära in der ägyptischen Gesellschaft.

«Der Jugend gehört die Gegenwart und die Zukunft.» Diese Phrase ist oft zu hören im Ägypten dieser Tage und wird von der Elite oft und gerne wiederholt, um darauf hinzuweisen, was die Jugend zur Demokratisierung und medialen Berichterstattung in der ganzen Welt beigetragen hat. Bis die Jugend allerdings für regierungsfähig gehalten wird, werden ihre Ideen längst hinfällig und ihr Interesse an Reformen längst verschwunden sein. So liegt die eigentliche Herausforderung im Konflikt zwischen den Generationen, im fortdauernden Kampf zwischen den Vorstellungen der jungen und alten Bevölkerung. Junge Menschen, die sich für ein besseres Leben, eine bessere Gesellschaft und ein besseres Land für ihre Familien aufopferten, haben keinen Einfluss gewonnen und bekamen nicht das, was ihnen versprochen wurde. Die Revolution wurde losgetreten, um die Militärautokratie abzulösen, welche die Energie der Jugend kapitalisieren wollte, ohne ihr dabei Mitsprache zuzugestehen. In ihren Augen sind junge Erwachsene nichts als unreife, verantwortungslose Kinder, die mehr konsumieren als leisten, weshalb die ältere Generation sie kontrollieren muss.

Auswandern?

Präsident Al-Sisi unterscheidet sich in seinem Umgang mit dem Jugendproblem keinen Deut von seinen Vorgängern. Es wird oft ein geschöntes Bild über Al-Sisis Beliebtheit unter den Jungen gezeichnet. Aber unsere Jugend ist noch nie hinter einem Amtsträger gestanden, der für die altbackenen ägyptischen Polit-Traditionen steht. Die hässliche Wahrheit ist: Die Mehrheit der ägyptischen Jugend ist frustriert und würde jede Chance nutzen, das Land zu verlassen. Doch haben sie überhaupt die Möglichkeit dazu?

Ich selbst wäre der Erste, der auswandern würde. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Viele von uns verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um ein neues Leben anzufangen. Und Staaten, die uns willkommen heissen, sind rar gesät. Zusätzlich ist es noch schwieriger, Ziele im Leben zu erreichen, wenn die Unterstützung, der familiäre Rückhalt fehlt.

Im Ausland soll man wissen, dass alles, was wir wollen, eine bessere Zukunft für uns und unsere Familien ist. Dass wir ein menschenwürdiges Leben führen wollen. Und dass der Gedanke daran, auszuwandern, ebenso schmerzhaft und fürchterlich ist wie die Erkenntnis, dass ambitionierte junge Menschen einfach keine Chance bekommen, weil die alten Ägypter an unserer Aufrichtigkeit und Treue zu unserer geliebten Heimat zweifeln.

Ich treffe dich an einem besseren Tag, o du unsere Seele, Ägypten!