Editorial #2/16

Editorial

8. April 2016

Warnung — In dieser Zeitung werden ein Pornostar (S. 20–22), zweideutige Früchte (S. 14–16) und ein Bronzepenis mit Flügeln (S. 19) gezeigt. Eine etwas übervorsichtige Warnung, denkt man vielleicht. Doch ist sie tatsächlich so unnötig?

Eigentlich leben wir doch in einer schizophrenen Situation. Die gesellschaftliche Liberalisierung schreitet einerseits ungebremst voran: Homosexuelle dürfen heutzutage vielerorts heiraten; Zensur kennen wir nur noch von absoluten Regimes. Auch in der Pornographie hat in wenigen Jahrzehnten eine radikale Entkriminalisierung stattgefunden: «Hardcore» der Siebziger- ist «Artcore» der Zweitausendzehnerjahre (S. 23). Zwei Klicks im Netz und jede und jeder wird überschwemmt mit Porno.

Andererseits sind da immer die Reaktionären, die ihre Fiktion der «guten alten Zeit» zurückwollen. Selbst junge Menschen sind oft überfordert von den – nicht immer leicht verdaulichen – Bildern und Tatsachen, mit denen sie heute ungefiltert konfrontiert sind. Die Doppelmoral ist gross: Will der «Blick» eine App fürs iPad herausbringen, muss er seine lasziven Girls zensieren. Aufklärungsbücher (auch aus den Siebzigern) mit nackten Kindern stehen heute unter Pädophilieverdacht. Aufgeklärte Menschen verschliessen die Augen vor den Nebenwirkungen einer konsequent liberalen Gesellschaft.

Wir glauben: Wegschauen geht nicht mehr; darüber schweigen wäre kindisch. Denn wer der Realität nicht ins Gesicht schaut, kann sie auch nicht verstehen und kritisch hinterfragen. Oder anders: Wer nicht über Porno spechen kann, sollte sich auch keine Meinung über Pornostars bilden.

Michael Kuratli, Redaktionsleiter