Die Bierstube Scheidegg ist schlecht besucht. Matthias Kappeler

Der Reiz verruchter Beizen

Immer mehr alte Zürcher Spunten wandeln sich zu schicken Szenelokalen. Eine Knellentour mit drei Stationen.

22. Oktober 2013

In dieser Stadt geht es schnell: Was heute trendy, hip und cool ist, verschreien Zürcher morgen schon als langweilig. Momentan sind alte, verruchte Beizen beliebt. Doch authentisch bleiben die wenigsten. Die ZS hat an einem Samstagabend drei Knellen besucht: die Bierstube Scheidegg, die Olé-Olé-Bar und die Damm-Bar.

Altwerden in der Bierstube Scheidegg

Die weiss gestickten Vorhänge sind zugezogen. Gedämpftes Licht dringt nach draussen. Die Bierstube Scheidegg an der Haltestelle Schmiede Wiedikon ist eine wahre Königin unter den Spunten. Kaum eingetreten, steht man mitten im Raum. Vom Stammtisch her wird freundlich gegrüsst. Die Hälfte des Dutzends Gäste sitzt zusammen an einem Tisch. Mit ihnen auch die Beizerin, die sitzend die Bestellung aufnimmt. Ihre Frisur und die pink lackierten Fingernägel erinnern an Nancy Sinatra. Aus der Jukebox ertönen Ländler und Schlager. Neben dem Spielautomaten tanzt eine Frau Polka. Ein neuer Gast tritt ein und gesellt sich an den Stammtisch. Ohne nachzufragen, stellt ihm die Wirtin einen Kafi Schnaps hin. «In diesem Spunten bin ich alt geworden», meint sie, «wahrscheinlich bin ich mit 70 noch hier.»

«Die Scheidegg ist verrufen», sagt die 64-jährige Pächterin Ruth Frei. Sie führt das Lokal seit 18 Jahren. Nur die ersten fünf liefen «sensationell». Inzwischen sind die Stammgäste weggestorben. Die nächste Generation bleibt aus. «Uns fehlen die jungen Gäste. Das ist schade.» Die Beiz lebt von wenigen Stammgästen wie dem pensionierten Ruedi: «Hier ist es heimelig. Auch wenn manche Gäste unmöglich sind.» Im Winter steht Gulaschsuppe auf der Speisekarte, im Sommer Bratwurst. Sieben Tage die Woche, von acht Uhr früh bis in die Morgenstunden, ist die Scheidegg geöffnet. Zwei Serviertöchter schmeissen den Laden. So nennt man hier die Serviceangestellten.

Olé-Olé: Alte Jukebox, neue Gäste

In der Olé-Olé-Bar im Kreis 4 ist alles retro. Hier spielt die Jukebox einen ABBA-Hit. Die überladene Wanddekoration erzählt die verblichene Geschichte des einstigen Kult-Lokals. Ende April 2013 wurde die Bar wiedereröffnet. Das Meiste blieb beim Alten. Das Kneipenambiente wollen die drei neuen Betreiberinnen, Ramona Bolzli, Elena Nierlich und Sonja Huwiler, beibehalten. Deshalb verkaufen sie gekochte Eier an der Bar und schenken nach wie vor überwiegend Bier aus. Aber nichts bleibt ganz so, wie es einmal war. Das Flair einer verlebten Wirtschaft hat die Olé-Olé-Bar verloren. Zudem ist das Licht um einige Nuancen zu dunkel, der Lärmpegel zu hoch und das Angebot an Cocktails zu vielfältig für eine echte Knelle. Sitzen kann man bereits um halb zehn nicht mehr. Die meisten der Gäste sind um die dreissig und wirken, als könnten sie sich die renovierten Wohnungen im Kreis 5 noch leisten. «Das war nicht immer so», erzählen zwei Besucherinnen. «Früher waren die Gäste durchmischter.» Auch an die herzliche Wirtin und ihre Geschwister erinnern sich die beiden 36-Jährigen gerne. Im Herbst 2012 mussten die ehemaligen Betreiber die Bar aus gesundheitlichen Gründen schliessen.

Die neuen Pächterinnen sind sich bewusst, dass das Publikum jünger geworden ist. Es kämen aber immer noch Stammkunden von früher. Einer von ihnen steht an der Bar. Er sei ein «chronischer Gast», erklärt der 52-Jährige. Seit dreissig Jahren steht er hier am Tresen. Heute zum ersten Mal seit der Wiedereröffnung. Und er freut sich. Viele andere Beizen hätten schon geschlossen und nie wieder aufgemacht. «Wenn die Musik stimmt, dann stimmts», sagt er. Und die Jukebox sei ja noch dieselbe.

Damm-Bar im Umbruch

Eine Lichterkette und ein neonblaues «D» beleuchten den Vorplatz der Damm-Bar in Wipkingen. Zehn Gäste stehen rauchend vor den geschlossenen Garagentoren. Nochmals so viele sitzen an der kleinen Cocktail-Bar. Kerzen flackern auf den Tischen. Die Gäste müssen nicht schreien, um miteinander zu reden, denn die Musik ist dezent. Seefahrtsgemälde, alte Wandverzierungen und ein Rettungsring schmücken die Wände. Aber der Schein trügt: Ein DJ-Pult ersetzt die Jukebox. Der dunkle Parkett-Boden ist frisch renoviert und die Wand neu blau gestrichen.

Auf der Theke steht ein Krug Sangría, daneben eine kleine Auswahl an Antipasti. Der Barkeeper, der sich als Brian vorstellt, hat sein Handwerk in Barcelona gelernt. «Spezielle Drinks in Kneipenambiente sind unsere Spezialität», verrät er. Obwohl die Spezialisierung auf Cocktails nicht gerade «kneipig» ist, legt die neue Bar Wert auf ihre Geschichte. Lange war das Restaurant Damm eine Knelle, wo am Ende noch ein Dutzend Stammgäste verkehrten. Mit der Wiedereröffnung durch Michel Häberli und Tim Hartje, die bereits das «Kafi für dich» im Kreis 4 betreiben, veränderte sich auch das Publikum. «Wir haben eine Durchmischung von 30- bis 60-Jährigen», sagt Hartje. Einige der ehemaligen Stammgäste schauen seit dem Umbau immer noch vorbei.

Auf Facebook präsentiert sich die Bar mit dem Motto: «Der Damm im neuen Kleid». Einige Besucher sind heute zum ersten Mal hier und zeigen sich begeistert. In Zukunft sollen auch die Garagen auf dem Vorplatz genutzt werden. Die Besitzer warten noch auf die Bewilligung.

Nüchternes Fazit

In den drei Kneipen trifft man auf zwei verschiedene Welten: Einerseits der verruchte Kneipencharme der sich treu gebliebenen Bierstube Scheidegg mit einem älteren Publikum. Andererseits die neu eröffneten Bars, die ihre traditionelle Hülle behalten, aber mit neuem Konzept jüngeres Publikum anziehen.

Trotz der gemütlichen Stimmung in der Scheidegg kann man sich unwohl fühlen. Die Gäste bilden einen geschlossenen Zirkel. Dagegen ist die Olé-Olé-Bar so anonym, dass sie mehr an einen Club als an eine gemütliche Kneipe erinnert, während sich die Damm-Bar als eine gute Mischung aus beiden Welten entpuppt.