Wikimedia Commons

Duell: Kirchtürme

Soziologieprofessor Kurt Imhof ist in den Schweizer Medien ein häufig gesehener Gast. Er ist der Überzeugung, dass die Medienpräsenz von Professoren der Wissenschaft dient.

Beni Blum (Pro) und Patrice Siegrist (Kontra)
25. November 2009

Dafür

Kirchtürme gehören zur Schweiz wie der Kirsch zum Fondue. Wozu der ganze Aufruhr? Hat die Christenheit in der Moderne nicht schon genug gelitten? Die christliche Heilslehre wird mit Füs-sen getreten. Die Jugend kennt das Innere einer Kirche nur noch aus Büchern. Atheisten bezweifeln öffentlich an riesigen Plakaten die Existenz Gottes. Am katholischen Weltjugendtag werden – zu aller Schmach der Organisatoren – Kondome verteilt.

Und jetzt wollen die Populisten dem Christentum auch noch seine letzte Bastion, den Kirchturm nehmen. Sollen die sowieso schon unter dem Zölibat leidenden Priester nun auch noch obdachlos werden?

Die Kritiker der Kirchtürme zielen nur vordergründig auf die Kirchtürme ab, in Wahrheit aber geht es um die Ausgrenzung der Christen.

Doch die meisten sind bestens integriert. Nur eine verschwindend kleine Minderheit schändet Kinder, treibt Ablasshandel, initiiert Kreuzzüge oder glaubt ernsthaft an das geozentrische Weltbild. Die Mehrheit lebt wie du und ich. Sie haben ein Recht darauf, ihren Glauben frei auszuleben. Religionsfrieden statt Architekturkrieg. Unsere pluralistische Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass selbst architektonisch äusserst fragwürdige Kirchturmbauten fern ab jeglicher Ästhetik toleriert werden müssen. Denn nur so können wir Zustände wie zu der Zeit der Sonderbundskriege verhindern.

Die Schweiz könnte es sich im Übrigen nicht leisten, die Kirchtürme zu verbieten. Die Entlassung der Schweizergarde und ausufernde Exkommunikationswellen Roms wären zu befürchten. Es drohte ein internationaler Boykott des Kirchentourismus mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen. Die Schweiz als Pilgerdestination wäre für immer verloren. Ein Verbot schafft Hass und Ausgrenzung. Für die sowieso schon isolierten Einsiedler Mönche wäre der Schritt zu Anschlägen und Terrorismus ein kleiner.

Kirchtürme, Symbole strotzender, männlicher Fruchtbarkeit, sind der letzte Hoffnungsschimmer in der heutigen Zeit von wild wuchernden Mobilfunkantennen und rasant sinkenden Geburtenraten.

Dagegen

Kirchtürme sind des Teufels. Als Bauwerk haben sie keinen religiösen Charakter und stellen historisch betrachtet ein religiös-politisches Machtsymbol dar. In der heutigen Zeit haben solche Symbole auch in einer abendländischen Kultur nichts mehr zu suchen. Wir leben in einem säkularen, aufgeklärten Staat, in welchem die Religionsfreiheit nicht eingeschränkt werden soll, aber Staat und Kirche konsequent voneinander getrennt sein müssen. Durch die an männliche Gliedmassen erinnernde Prunkbauten wird ganz klar eine vorherrschende Macht dem Landschaftsbild aufgedrängt. Die Machtsymbole prägen beinahe jede Schweizer Gemeinde und machen unverständlich klar, welche Religion hier dominierend ist und für richtig gehalten wird. Dies widerspricht unserem aufgeklärten Schweizer Staat.

Nicht nur die optische Dominanz geht mit Kirchtürmen einher. Akustischer Terrorismus wird tagtäglich von den Glockenspielen betrieben. Egal ob frühmorgens oder spätabends, die Kirchenglocken erinnern uns pünktlich daran, dass wieder eine Viertelstunde unseres angeblich mit Sünde belasteten Lebens vorbei ist. Anwohner müssen leiden und dies ohne jeglichen Nutzen. Denn die zusätzliche Warnfunktion der ohrenbetäubenden Glocken wurde durch moderne Sirenenanlagen abgelöst. Trotzdem bimmeln sie weiter! Und dies obwohl unsere Gesellschaft schon stark von Lärm geplagt ist. Industrie, Stras-senverkehr, Baustellen und Fluglärm sind nur einige Verursacher. Deshalb darf es nicht sein, dass Bürgerinnen und Bürger von veralteten Institutionen mit Sonderstatus, der sich über unsere Lärmvorschriften hinweg setzt, zusätzlich so stark belastet werden. Auch von der Kirche darf verlangt werden, dass sie unsere Gesetze respektiert.

Unser säkularer Staat ist durch diese Vormachtstellung akut gefährdet. Es findet eine schleichende Infiltration statt. Die Medien berichten über christlichen Fundamentalismus unter Lehrern und an der Pädagogischen Hochschule. Dies führt zu einem historischen Rückschritt. Bald werden unsere Kinder nur noch in der Schöpfungslehre unterrichtet und die Evolutionstheorie von Darwin aus dem Lehrplan gestrichen. Bevor also wieder Inquisitionen zur Tagesordnung werden, muss man den Machtsymbolen die Stirn bieten.