Fussball ohne Schiedsrichter*in

Im Zuge der 68er-Bewegung wurde in Zürich die Alternativliga gegründet. Was unterscheidet sie vom konventionellen Fussball? Eine Geschichte vom Spiel am Hardhof.

Leonard Kalberer (Text und Foto)
24. November 2025

Erneut versuchen wir das Aufbauspiel über Links. Als der Ball zu mir kommt stochert ein Gegner dazwischen. Ich treffe den Ball und gleichzeitig seinen Fuss. Ohne zu zögern ruft er: «Foul!» Nicht ganz einverstanden, schnappe ich mir reflexartig den Ball, um ihn nach kurzer Besinnung wieder loszulassen. «Den Ball habe ich aber auch getroffen», versuche ich mich zu erklären. «Ja, aber zuerst meinen Fuss», entgegnet er. Kurz möchte ich mich wehren, doch ich besinne mich eines besseren. «Okay, wenn du das so siehst, dann gebe ich dir das Foul», antworte ich und spiele ihm den Ball zu. Handschlag, freundliches Zunicken – weiter geht’s. Fussball ohne Schiedsrichter* in? Ohne Gehässigkeiten und mit fairem Austausch? Klingt utopisch, ist aber Realität auf dem Hardhof in Zürich. Die Alternativliga, die älteste alternative Fussballliga im deutschsprachigen Raum, trägt dort seit 1977 ihre Spiele aus. Gegründet wurde sie von «linksradikalen Idealisten» um Giorgio Bellini und Koni Frei. Letzterer hatte 1976 die Idee, eine Fussballmeisterschaft unter Zürichs Linken zu veranstalten, um die zersplitterte Bewegung wieder zu vereinen.

Kapitalismuskritik im Vordergrund

in seinem Dokumentarfilm «Tor für die Revolution» zeigt, traf Frei mit seiner Idee den Nerv der Zeit. Fussballspielen war damals unter Linken verpönt, aber die 68er-Bewegung neigte sich zu Ende, und es brauchte neue Formen des Zusammenhaltes. Da die Stadt Zürich 1976 beschloss, dass nur Vereine mit mindestens 20 Mitgliedern Sportplätze buchen dürfen, gründeten die Aktivist* innen den Fortschrittlichen Schweizer Fussballverband (FSFV). Seither organisiert das Zentralkommitee (ZK) die Alternativliga. Es wurden klare Regeln ausgearbeitet. Auch auf dem Fussballplatz sollten Kapitalismuskritik und Basisdemokratie im Vordergrund stehen. So wurden Nockenschuhe, einheitliche Trikots und Schiedsrichter* innen verboten. Männer und Frauen spielten in gleichen Teams, und es gab sogar das Recht zum Sitzstreik: Wenn das Gewinnen zu sehr in den Vordergrund rückte, konnte man eine Diskussion im Mittelkreis verlangen. 

Mit diesem Regelwerk grenzte man sich klar gegen den «klassischen» Schweizerischen Fussballverband (SFV) ab. Es entstanden verschiedene Teams mit Namen wie «Rotwyfahne », «SKK Clandestin» oder «Zündstoffrebellen ». So eine «exotische» Bande war der Stadtpolizei Zürich nicht geheuer. Sie verlangte Mitgliederlisten vom Sportamt Zürich und sammelte Daten für den Fichenskandal. Jahre später entschuldigte sich das Sportamt beim FSFV. Anfänglich bestand die Alternativliga aus 20 Teams, von 150 Mitgliedern waren 30 davon Frauen. Doch mit der Zeit wurde klar, dass Ehrgeiz und Siegeswille womöglich doch eher dem Sport als dem Kapitalismus geschuldet waren.

Eine moderatere Variante

Fussball wurde wieder mehr zu einer «Machogeschichte», erklärt ein Protagonist im Film von Kohler. Immer weniger Frauen kamen zum Einsatz und hitzige Diskussionen lagen an der Tagesordnung. Es kristallisierte sich die Gretchenfrage für die Alternativliga heraus: Wolle man «richtigen » Fussball spielen oder sich den Frauen anpassen? Die Mitglieder konnten diese Frage nicht eindeutig beantworten, und es kam immer wieder zu Austritten. Ende der 80er-Jahre spielten noch elf Teams in der Alternativliga. Ein Neuanfang war nötig. Unter Präsident Hansueli Breitenmoser kam es zu einer Modernisierung der Liga. 1991 gleicht das Zentralkomitee das Regelwerk an das des SFV an: Schiedsrichter*innen und «Töggelischuhe » waren erlaubt. 1999 kam eine eigene für Fintas dazu. Die Alternativliga bekam wieder Zuwachs, beschleunigt durch den Einstieg von Clubbesitzer*innen und Szenenkneipen. Laut Mämä Sykora, von 1998 bis 2012 Präsident des FSFV, war die Alternativliga damals der «Place to be» in Zürich. Bis zu 1000 Leute kamen zu Saisoneröffnungen. Über die damalige politische Lage sagte Sykora: «Es war eher eine politisch linke Klientel, die dort Fussball spielte, doch wir hatten auch FDP-Politiker im Team.» 

Für viele war es eine Erleichterung, dass nicht mehr jede Entscheidung im Plenum diskutiert werden musste. Der gegenseitige Respekt und Fairplay gehörten aber nach wie vor zum Kodex und sind Erkennungszeichen der Alternativliga. Corsin Zander, mein Mitspieler bei «Zwietracht Turicum», rutschte 2015 über Freunde ins ZK und übernahm 2018 die Funktion des Sekretärs. Bei seinem Einstieg in die Alternativliga 2010 wurden ihm diese Werte vermittelt und vorgelebt. Doch mit der Zeit wurde die Alternativliga wieder kompetitiver und das Niveau immer besser. Vielen neuen Teams waren die alten Ideale nicht mehr so präsent. Es ging vor allem um den Fussball. «Grundsätzlich begrüsse ich diese Entwicklung, da es auch mehr Spass macht», sagt Zander, «doch steigt das Niveau, geraten auch Werte wie freundschaftliches Zusammenspielen unter Druck.» Damit beschäftigt sich auch das heutige Co-Präsidium der Alternativliga, bestehend aus Nadja Zimmermann und Kimbal Siegrist. 

Der sportliche Fokus überwiegt, doch vom FIFA-Kommerz will man sich nach wie vor klar abgrenzen. Während der Covid-Pandemie wurden Schiedsrichter*innen wieder abgeschafft. In der Männerliga gibt es zudem eine Fairplay-Wertung, die bei gleichem Punktestand über die Klassifizierung entscheidet. Laut Siegrist, der beim Rekordmeister «Aurora» spielt, hat sich das politische Profil des alternativen Fussballs über die Jahre abgeschwächt. Dies wurde während der WM in Katar 2022 wieder offensichtlich. Es kamen Fragen auf, wie sich die Alternativliga dazu positioniert. «Nadja und ich wollten eine Grundlage erarbeiten. Es steckt eine grosse Geschichte hinter der Alternativliga und wir wollten diese wieder ersichtlicher machen», erklärt Siegrist. Dabei dient die Liga der Fintas als Vorbild. Zander empfindet deren «Groove» achtsamer und zukunftsorientierter als bei den Männern.

Flinta-Liga dient als Vorbild 

Zimmermann, die seit 2001 beim Frauenteam «Zürich United Grrrls» spielt, bestätigt dies: «Ja, eindeutig. Auseinandersetzungen wie bei den Männern sind mittlerweile unvorstellbar bei uns.» Die «Liga», welche zum 20-jährigen Bestehen diesen Namen erhielt, ist offen für alle Geschlechter ausser cis-Männer, welche in der der «Männer-Liga» spielen dürfen. «Als Finta hast du im Fussball schon immer Diskriminierung erlebt, somit kommt man schon politisch geprägt in die Alternativliga », ergänzt Zimmermann. Die Liga geht auch in anderen Bereichen voran. So verzichteten die Finta- Teams schon vor den Männern auf Schiedsrichter*innen. Der Fairplaypreis existiert in der Liga nicht mehr, da sich alle als gleich fair ansehen. «Wir sind aber auch kleiner und übersichtlicher», gesteht Zimmermann. Momentan besteht die Liga aus 14 Teams. 

Unser Spiel gegen «Sporting Morgenstern» endete mit 0:0. Ein seltenes Resultat in der meist torreichen Alternativliga. Verregnet und humpelnd, doch mit einem Lächeln auf dem Gesicht treffen wir uns beim Hardhof-Kiosk. Bei einem Powerade oder Bier wird nochmals den verpassten Torchancen nachgetrauert. Der Spass an diesem oft gescholtenen, doch so tollen Sport rückt in den Vordergrund. Ganz nach dem Motto: «Gegner*innen auf dem Platz – Freund*innen in der dritten Halbzeit». Auf die Frage, was nun an der Alternativliga noch politisch ist, erklärt Siegrist: «Es ist für mich intrinsisch politisch, in dieser Liga zu spielen, die sich der Kommerzialisierung und Professionalisierung des Fussballs entzieht. Es ist wirklich fairer, es wird miteinander statt gegeneinander gespielt. Ganz viele Leute spüren und schätzen das.» Auf der Traktandenliste des ZK steht die Ausarbeitung eines Verhaltenskodex. Damit die Alternativliga, in einer zunehmend nach rechts driftenden Welt, auch weiterhin ein Ort bleibt, der sich gegen Diskriminierung einsetzt.