Nick Laurent glaubt an die nordgermanischen Götter. Er möchte mit seinem Schwert begraben werden.

«Sexarbeitende leisten auch ihren Beitrag zur Gesellschaft»

Was mit einem Zeitungsinserat begann wurde zur langjährgen Leidenschaft. Seit fast zwanzig Jahren beglückt Callboy Nick Laurent seine Kundschaft. Mittlerweile ist er ausgebildeter Sexualtherapeut und besitzt die Portale Callboy-Schweiz und -Wien.

Giorgio Dridi (Text und Foto)
9. Mai 2025

Standardfrage vorweg: Wie kams dazu?
Die Kurzversion: Ich war 29 Jahre alt und wollte noch etwas Verrücktes machen, bevor ich die Dreissig erreiche. In Wahrheit führte ich schon ein relativ offenes Sexualleben mit meiner Partnerin. Wir haben uns mit anderen getroffen und da gab es des Öfteren Bemerkungen von Frauen, die meinten, ich solle Geld dafür verlangen. Also schaltete ich ein Inserat in der Zeitung. Meine erste Buchung war ein Paar, danach kam eine Frau und mit der Zeit merkte ich, dass es mir Spass macht und sich gutes Geld damit verdienen lässt. Mit Menschen und vor allem mit anspruchsvollen Situationen kann ich gut umgehen. Also erstellte ich meine eigene Website, liess professionelle Fotos schiessen und verdeckte dabei mein Gesicht nicht. Wer Probleme mit meiner Arbeit hat, kann mir schreiben und ansonsten die Strassenseite wechseln. Tatsächlich passierte Letzteres später auch, jedoch nicht mir. Bekannte wechselten beim Anblick meiner Eltern die Strassenseite, als sie erfahren hatten, was deren Sohn treibt. 

Es werden also selbst die Eltern von Sexarbeitenden stigmatisiert. 
Richtig, auch wenn ich längstens nicht mehr meinen Geburtsnamen trage. Den habe ich natürlich geändert, auch zum Schutz meiner Eltern. Doch gewisse Menschen erkannten mein Gesicht.

Du warst schliesslich auch in der Kult-Talkshow «Aeschbacher» zu Gast. Damals hast du noch Vollzeit im Büro gearbeitet. Wie reagierte dein restliches Umfeld?
Meine Arbeitgeber*innen wussten Bescheid. Bei den Arbeitskolleg*innen habe ich nicht gross damit hausiert. Trotzdem fielen Sprüche wie: «Kann ich auch mal mitkommen?» Das ist eine typisch männliche Reaktion. «Klaaar, meine Kund*in hätte sicher riesige Freude, wenn du mitkommst!» Zwar gibt es Situationen, in denen ich jemanden mitnehme, doch da habe ich eigene Leute im Petto. Einen davon kenne ich seit dem Sandkasten. Bei ihm weiss ich, dass er in Ordnung ist und seine Leistung abliefert. 

Spürst du selbst Leistungsdruck?
Vor jeder Buchung führe ich eine Vorbereitung durch, die mich entspannt. Ich setze mich nicht hin und meditiere, sondern rasiere, dusche und kleide mich in einer Gelassenheit. Ich stelle mich nochmal auf die Kund*in ein und lese Chat-Nachrichten durch oder erinnere mich an das letzte Treffen. Entsprechend gelassen komme ich an, sodass ich mich auf die Kund*in einlassen kann. Der Rest passiert von alleine.

Fühlt sich das noch wie Arbeit an?
Ja, nein, jein. Bei der Buchung geht es nicht um meine Sexualität, sondern um die der Kund*in. Das ist anders, als wenn ich meine eigenen Gelüste auslebe. Es ist in dem Sinn Arbeit, dass ich mich zu hundert Prozent auf die Kund*innen und deren Bedürfnisse ­einstelle.

Du bietest auch für Transpersonen Dienstleistungen an. Warst du schon immer offen dafür?
Ich habe im Verlauf meiner Tätigkeit viele Geschichten gesammelt und psychologische Ausbildungen absolviert. Das hat mir geholfen, gewisse Dinge zu formulieren, für die mir vorher die Worte fehlten. Ich werde nur von weiblich gelesenen Menschen gebucht. Das ist auch gut so, denn da weiss ich, was ich mache. Es gibt aber auch Paare, die mich buchen. Da habe ich keine Berührungsängste, wenn mich der Mann anfasst. Schliesslich finde ich Menschen und nicht Geschlechter attraktiv. Das habe ich schon immer gespürt. Nun kann ich sagen: «Ich bin pansexuell».

Bezeichnest du dich auch als polyamor?
Nein, mein Herz gehört einer Person. Dieses Jahr heiraten wir. Ob ich sie bei der Arbeit kennengelernt habe? Tatsächlich, aber das war eine Ausnahme. Natürlich habe ich auch Gefühle gegenüber meinen Kund*innen, jedoch ist das meistens Zuneigung und noch keine Liebe. Ich habe das Riesenglück, dass meine Partnerin das Eifersuchts-Gen nicht besitzt. «Gen» ist vielleicht überspitzt, doch ich denke, Eifersucht ist eine Persönlichkeitsfrage. Eifersucht hat viel mit Unsicherheit und Verlustängsten zu tun. Bei mir ist das nicht so: Klar könnten meine Partnerin und ich uns auseinanderleben, doch wir würden vorher darüber reden, wenn etwas nicht stimmt.

Kann man das erlernen?
Ich glaube schon. Das ist so wie Sexualität: Sie wird dir nicht einfach in die Wiege gelegt. Es gibt zwar kindliche Sexualität, doch spätestens diejenige von erwachsenen Menschen ist erlernt. Genauso kann man den Umgang mit dem Gegenüber und der Eifersucht erlernen.

Trifft deine Verlobte andere Männer?
Sie hätte jedes Recht der Welt, dies zu tun, doch sie scheint das überhaupt nicht zu wollen. Wenn Nick nicht da ist, vermisst sie ihn.

Ohne dir das Business verderben zu wollen: Hast du Tipps für das Sexualleben unserer Leserschaft?
Ich sage es ganz profan: Sexualität kann man immer leben, überall und jederzeit. Man muss auch nicht immer in der Kiste landen. Jemand von beiden steht am Herd, und die andere Person drückt ihr einen Kuss in den Nacken und geht wieder. Oder man gammelt halbnackt vor Netflix rum, streichelt sich, ohne eine weiterführende Absicht zu haben. Es geht um Absichtslosigkeit in der alltäglichen Begegnung. Jeder Kontakt, jede Berührung und jedes gesprochene Wort hat im Grunde mit Sexualität zu tun. Das kann zu mehr führen, muss aber nicht. Dann wird es entspannt, denn niemand steht unter Druck, liefern zu müssen. Jedoch kann ich auch da keine fertigen Rezepte geben: Jeder Mensch ist komplex und jede Paarkonstellation umso mehr. 

Internationale Statistiken zeigen, dass Menschen weniger Sex haben. Woran liegt das?
Obwohl sich uns durch Soziale Medien und Datingplattformen mehr Möglichkeiten eröffnen sollten, haben diese Apps einen kontraproduktiven Effekt. Sie sind Plattformen der Eitelkeiten: Jeder und jede präsentiert sich von der besten Seite. Man wird unsicher, denn man kommt nicht mehr hinterher. 

Ist das bei Callboy-Schweiz nicht dasselbe?
Ich bin selbst auf Instagram und habe auch nichts gegen Tinder, aber ich muss spüren, ob etwas passt oder nicht. Ich muss das am Telefon hören oder im Chat zwischen den Zeilen lesen. Da reicht ein Internet-Profil noch nicht aus. Viele bleiben im Virtuellen hängen und trauen sich den Schritt in die Wirklichkeit nicht. Jedoch biete ich seit Covid zusätzlich Videoanrufe an, um meinen Gegenübern Sicherheit zu geben. Wahrscheinlich auch, weil ich auch in Frankreich und Deutschland lebe und selten länger als zwei Wochen am selben Ort bin. Auch dieses Treffen hier ist eine Ausnahme, weil ich mich fast nie mit Menschen ausserhalb der Arbeit treffe. Eigentlich bin ich wie viele andere auch ständig am Arbeitsplatz, nur dass ich bei meinem Job genug zwischenmenschlichen Kontakt habe. 

Also sind deine sozialen Bedürfnisse durch den Job gedeckt?
Das liegt an meiner Persönlichkeit: Ich bin ein Mensch, der sich selbst genügt. Ich geniesse auch die Einsamkeit des administrativen Teils meines Jobs, wie das Betreiben des Portals. Sonst hocke ich auf dem Motorrad und drehe Runden – das ist meine Therapie. Und natürlich habe ich meine Kund*innen, die ich selbst während Covid im Zweiwochentakt traf. Ich dachte: «Leck mich am Arsch, ich brauche jetzt zwischenmenschlichen Kontakt». Mir ging es nicht nur um Sex. Rein finanziell war es auch nicht nötig.

Müssen deine Kund*innen einen negativen STI-Test vorweisen?
Nein, ich lasse mich alle drei Monate selbst abchecken. Ich nutze noch das gleiche Testanweisungsformular von meiner kurzen Exkursion in die Porno-Szene Ende 2000er, das ich seinerzeit mit einem Mediziner ausgearbeitet hatte. Ich kann mit stolz behaupten, dass ich mir seit dem Beginn meiner Tätigkeit noch nie einen «Käfer» eingefangen habe.

Bemerkenswert bei dieser Quantität. Verhütest du immer?
Ich gehe nicht aus dem Haus ohne… (zeigt sein Gummi). Und Müllsäcke zum Aufräumen habe ich auch immer mit dabei. Es gehört zum guten Ton: Man lässt keine Spuren zurück, ob sie verheiratet ist oder nicht. Im Nachhinein habe ich auch gemerkt, dass diese Gewohnheit dem Samenraub vorbeugt – was vor allem die Angst so mancher Kollegen ist.

Lehnst du auch Kund*innen ab?
Die Kund*in wählt mich aus und bei der Kontaktaufnahme merke ich meist schon, ob sie zu mir passt. Wenn sie völlig anders tickt, leite ich sie an einen Kollegen weiter. Dann ist nicht die Kund*in das Problem, sondern ich. Es geht zwar bei der Begegnung nicht um mich, doch ich muss mich wohlfühlen, um abzuliefern. 

Was sind dabei für dich «Red Flags»?
Alles, was Schaden anrichtet, ob psychisch oder körperlich. Dazu gehören auch Übergriffigkeiten. Das ist mir während einer Buchung noch nie passiert, jedoch bei meinem ehemaligen Arbeitsplatz. Die Sekretärin wusste von meiner Nebentätigkeit und fasste mich ständig an, obwohl ich das nicht wollte. Vorher zu fragen wäre schön. Ich komme aus Südfrankreich und wir sind sehr touchy, aber man merkt oder sollte merken, ob man jemanden berühren darf. Wer sich nicht sicher ist, fragt lieber. 

Wer bucht dich?
Fangen wir beim Alter an: Die älteste war 68 und die jüngste 18, was noch speziell ist, wenn man so ein «alter Sack» ist wie ich. Die meisten sind zwischen 40 und 60, also etwa in meinem Alter. Es sind Geschäfts- oder Hausfrauen, single oder verheiratet, also ganz unterschiedlich. Die einen haben ein Bedürfnis, das nicht gedeckt wird und andere wollen rumexperimentieren. Was ich überraschenderweise öfter hatte, sind weibliche Paare, die es in einem Safer Space mit einem Mann probieren wollten, anstatt in der Bar einen Fremden aufzureissen, der übergriffig sein könnte. Es kommen auch Frauen, die Vergewaltigungen in der Jugend oder in der Ehe erlebt haben und Traumata mittragen. Inzwischen habe ich eine sexualpsychologische Ausbildung bei «Sexocorporel» in Berlin absolviert. Auf dem Weg zu einer erfüllenden Sexualität versuche ich, die psychische Therapie mit positiven körperlichen Erfahrungen zu ergänzen. 

Wie geht man dabei vor?
[Triggerwarnung: Diese Antwort enthält Beschreibungen sexualisierter Gewalt.]
Sehr behutsam und kommunikativ. Da entstehen manchmal auch spezielle Situationen. Eine Kundin fragte mich, ob es mir bei der Penetration nicht weh tue. Sie erzählte mir, dass ihr Mann sich über solche Schmerzen beklagt hatte. Als sie mich über ihre Ehe aufgeklärt hatte, verstand ich warum: Er befahl ihr, sich flach hinzulegen und ging über sie. Ihre fehlende Lust gestaltete die Penetration schwierig und schmerzhaft. Mit ihr drehte ich bewusst den Spiess um, indem ich mich auf den Rücken legte und sie die Führung übernehmen liess. Es gibt jedoch kein Rezept. Jede Situation ist anders und man muss sich immer aufs Neue aufmerksam einfühlen. 

Du bist seit fast zwei Jahrzehnten Callboy. Wie hat sich die Kundschaft verändert?
Frauen sind emanzipierter geworden und haben ein grösseres Selbstverständnis für gewisse Bedürfnisse entwickelt. Es gibt nun auch mehr berufstätige Frauen, die sich einen solchen Service aus der eigenen Tasche finanzieren können. Jedoch gibt es nun wieder eine Gegenbewegung von Incels bis hin zu Evangelikaner*innen, wo selbst Frauen dabei sind, die finden, sie gehören hinter den Herd. Das kann ich absolut nicht verstehen. Wie in den letzten Jahren zu beobachten ist, haben sich progressive und rückwärtsgewandte Kräfte zunehmend polarisiert. Letztere wollen in der Schweiz, aber zum Beispiel auch in Deutschland, ein Sexkaufverbot wie in Frankreich und Skandinavien durchdrücken. 

Wie ist die rechtliche Lage in der Schweiz?
Nachdem eine Sexarbeiterin ihr Honorar eingeklagt hatte, entschied das Bundesgericht 2021, dass Prostitutionsverträge nicht mehr als «sittenwidrig» gelten und damit Sexarbeitnehmede einen Anspruch auf Bezahlung haben. Dies bedeutet, dass Sexarbeitende nicht mehr aufgrund der Prostitution selbst, sondern aufgrund des nicht bezahlten Honorars einklagen können. Es ist ein gutes Zeichen, dass Sexarbeit endlich als Arbeit angesehen wird. Wir zahlen Steuern und haben Abgaben. Sexarbeitende sind auch Teil der Gesellschaft und leisten ihren Beitrag. Im Moment ist die Lage eher liberal in der Schweiz, doch auch hier gibt es Stimmen für ein Sexkaufverbot.

Wie argumentieren Gegner*innen?
«Frauen schützen.» Ihr Bild ist die Sexarbeiterin, die sich auf dem Strich zum Dumpingpreis verkauft – mit Drogen im Spiel und Zuhälter im Hintergrund. Während die Frau straffrei bleibt, sollen Kund*innen strafbar gemacht werden. Das ist nicht ganz fertig gedacht. Diese Frauen arbeiten weiter, jedoch nicht mehr in geschützten Räumen wie Bordellen und Studios, sondern im Versteckten. Während der Pandemie wurden viele Räume geschlossen, sodass viele auf den weniger gut kontrollierten Escortservice umgestiegen sind. Im Untergrund sind sie nicht mehr fassbar für Hilfsorganisationen, soziale Dienste und die Polizei. Das zweite Problem mit einem Verbot ist das «infizierte Geld». Sobald die Sexarbeiter*in das Taxi oder die Miete mit dem verdienten Geld bezahlt, machen sich Fahrer*innen und Vermieter*innen strafbar. Eine Kindertagesstätte zu finden, würde so auch nicht einfacher werden. Und über Männer wird gar nicht erst geredet. Im heteronormativen Bereich bilde ich zwar den Kleinstteil der möglichen Opfer, doch besonders im homosexuellen Bereich bekommt man öfter sexualisierte Gewalt mit. Ich will auch nicht schönreden, dass im Milieu der Sexarbeit viele Menschen dazu gezwungen werden. Das hat jedoch nicht mit der Arbeit an sich zu tun, sondern mit Menschenhandel und Zuhälterei. Das darf man im politischen Diskurs nicht gleichstellen. 

Wie können Sexarbeiter*innen denn bestmöglich geschützt werden?
Menschenhandel und Zuhälterei sind heute schon verboten. Betroffenen fehlt es jedoch an Vertrauen in die Behörden. Vor allem jenen, die aus Ländern kommen, in denen Korruption herrscht. Die Kriminalisierung der Sexarbeit behindert die Anstrengungen von Organisationen, die nicht nur als Anlaufstelle dienen, sondern proaktiv vor Ort tätig sind und persönliche Beziehungen aufbauen. Der erste Schritt zur Entkriminalisierung der Sexarbeit ist die Entstigmatisierung.