Lernen, was das Gesetz mit den Menschen macht
An der Uni kann man neuerdings das Fach «Legal Gender Studies» belegen. Es soll beleuchten, wie Geschlecht das Recht prägt.
«Gesetze sind nicht einfach neutral; sie beinhalten oft unausgesprochene Annahmen und Vorurteile über Geschlecht», sagt Professorin Alice Margaria. Gemeinsam mit der Rechtsprofessorin Anne Kühler ist sie Verantwortliche des diesen Herbst lancierten Moduls «Legal Gender Studies» an der Universität Zürich. Ihr Fach versteht das Recht nicht als wertfrei, sondern als ein System, das an die bestehenden Geschlechterverhältnisse und deren Reproduktion gebunden ist. Denn Recht beschreibe laut Margaria die Realität nicht nur, sondern erzeuge sie auch. Dabei flössen subjektive Vorprägungen ein, die die Vorstellung von Objektivität infrage stellen. Ziel ist, die kritische Analyse von Recht und Geschlecht sowie die Offenlegung problematischer Konstruktionen und Machtverhältnisse im Recht durch die Rechtswissenschaft.
Studierende starten den Diskurs
Das Geschlecht ist in den letzten Jahren zu einer zentralen rechtlichen und politischen Frage geworden. Aktuelle Debatten, wie eine Änderung des Geschlechtseintrags und die Anerkennung nicht-binärer Personen sind nur zwei von vielen Beispielen dafür, wie Lebensrealitäten durch das Recht und Geschlechterverhältnisse geprägt werden können. Margaria sieht in der Thematisierung von Geschlecht positive Entwicklungen: Sozialrechtliche Vorstellungen lösen sich zunehmend vom traditionellen binären Rahmen und es wird sich verstärkt um eine rechtliche Anerkennung eines breiteren Spektrums von Geschlechtsidentitäten bemüht.
Doch sie macht zugleich deutlich, dass die Debatte um das Geschlecht in Politik und Recht nicht nur positive Effekte haben kann. «Diese Veränderung hat bei Gewissen auch Ängste ausgelöst und wurde nicht immer in eine fortschrittliche Richtung gelenkt», sagt sie. Als Beispiel nennt sie die Aufhebung von Roe v. Wade im Jahr 2022 in den USA zur verfassungsrechtlichen Aufhebung des Abtreibungsrechts. Sie nennt es «einen der grössten Rückschläge der letzten Jahre». Was Gesetz und Geschlecht miteinander zu tun haben, bringt Margaria so auf den Punkt: «Geschlecht prägt in Verbindung mit anderen Aspekten unserer Identität wie Ethnie, Klasse oder Sexualität unsere Lebensrealitäten tiefgreifend. Seine rechtliche Regulierung kann sowohl befreiend als auch unterdrückend wirken.»
Lange war der Zugang zur juristischen Ausbildung bestimmten gesellschaftlichen Gruppen verwehrt. Aus politischen und wissenschaftlichen Bewegungen heraus entstanden in den 1980er-Jahren als neue Perspektive die Legal Gender Studies – die juristische Geschlechtsforschung. Ursprünglich lag ihr Fokus auf der strukturellen Benachteiligung von Frauen im Rechtssystem. Heute beziehen sie verstärkt intersektionale, queere und geschlechterbezogene Perspektiven mit ein. An der Universität Zürich wurde die Wichtigkeit des Themas erstmals durch die Studierendenvereinigung «Feministisch Ius» (F.Ius) und das Forum «Cognito» aufgegriffen. Im Herbstsemester 2020 organisierte der Verein eine Vorlesungs- und Workshop-Reihe. Die Studierendenvereinigung F.Ius legt in einem Sammelband zu den Legal Gender Studies dar: Es braucht eine juristische Ausbildung, die zur kritischen Reflexion über den eigenen Beruf anregt und über die gesetzesbasierte Anwendung hinausgeht. Der Kurs wurde anschliessend im Herbstsemester 2023 ins offizielle Lehrangebot der Uni aufgenommen.
Die Vorlesung führt die Studierenden durch die historischen Meilensteine, Methoden und Theorieansätze sowie Gerichtsurteile in die Thematik ein und erforscht, wie Recht die Geschlechtsverhältnisse gestaltet. Ziel der Vorlesung ist es, Studierenden eine kritische Auseinandersetzung mit rechtlichen Strukturen und deren Umsetzung zu ermöglichen. Das Recht an den meisten Universitäten wird anhand der Erarbeitung der Normen gelehrt und dann in fiktiven Fällen zur praktischen Übung behandelt. Diese Gestaltung des Studiums soll den juristischen Nachwuchs auf die Praxis vorbereiten. Gesellschaftliche und politische Widerstände kritisieren den Wandel von Geschlecht im Studium als «Genderwahn». Politische Parteien wie die SVP fordern bereits ein Verbot von gendergerechter Sprache. Eine internationale Studie der Hochschule Luzern von 2024 zeigt: Auch in der Schweiz existiert eine «Anti-Gender»-Politik.
Gerade diese Kritik unterstreicht die Relevanz einer fundierten Thematisierung. Professorin Margaria macht deutlich: «Geschlecht ist allgegenwärtig und nahezu alle Rechtsgebiete sind direkt oder indirekt daran beteiligt, geschlechtsbezogene Fragen zu definieren.» Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen fehlte bislang. Umso wichtiger ist eine Integration ins Curriculum auf Universitätsebene. Es geht dabei auch nicht ausschliesslich um Geschlecht. Sie wünscht sich generell ein sozialgerechteres und humanistisch ausgerichtetes Curriculum. «Auch ohne ausschliesslichen Fokus auf Gender bin ich überzeugt, dass Studierende stark von einer Perspektive profitieren würden, die nicht nur fragt, was das Gesetz sagt, sondern, was es mit den Menschen macht.»
Recht schafft Realitäten
Bei ihr sollen die Studierenden lernen, das Recht dreidimensional zu betrachten. Damit will sie nicht nur Einfühlsamkeit bei Jurist*innen fördern, sondern auch ein Bewusstsein und Engagement als Personen einer Gesellschaft. Dazu sagt sie: «Das Persönliche ist politisch» und meint damit, dass persönliche Erfahrungen Ausdruck grösserer gesellschaftlicher Zusammenhänge sind. Denn das Recht und seine Anwendung sind kein Selbstzweck: Es spiegelt die Wertehaltungen der Gesellschaft wider und wird von den Jurist*innen geprägt, die wir heute ausbilden.
Laut der Professorin zeigen die Studierenden grosses Interesse und bringen sich engagiert ein. Ludmilla studiert Rechtswissenschaften. Sie erklärt, dass sie das Modul gewählt habe, weil es viele soziale Probleme gibt, die im Jus-Studium kaum thematisiert würden. Gleichberechtigung und Racial Profiling werden zwar als Randthemen behandelt, aber weder intersektional betrachtet noch in grössere Zusammenhänge gestellt. Für sie stellt das eine grosse Lücke dar und es sei wichtig, solchen Inhalten im Studium ihren Platz zuzuweisen. «Es tut gut, das Recht einmal aus einer menschlichen, realitätsnahen Perspektive zu betrachten», sagt sie. Die positive Rückmeldung zeigt ein klares Bedürfnis nach einem solchen Angebot. Das neue Modul markiert damit einen ersten Schritt, geschlechterbezogene Perspektiven stärker in der juristischen Ausbildung zu verankern.