Leben in ständiger Unsicherheit
Überstunden, Willkür, Konkurrenz und tiefe Löhne: Die Arbeitsbedingungen im akademischen Mittelbau sind prekär. Betroffene erzählen von einem Ausbeutungssystem ohne Kontrollen.
Was es wirklich bedeutet, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, wissen viele Studierende nicht. Bachelor, Master, Doktorat, und irgendwann schafft man es vielleicht zur Professor*in. Doch zwischen dem Studi-Leben und der gut bezahlten Professur lauert eine stressige Zeit mit prekären Arbeitsbedingungen: tiefe Löhne, Überstunden, befristete Anstellungen, Konkurrenz, Diskriminierung, Machtgefälle. Oder wie es Yasmine*, die Teil des akademischen Mittelbaus an der ETH ist, formuliert: «The in-between is full of loops and cracks and shit.»
Doch wie ist das System aufgebaut, das all das zulässt? Der Grund des Problems ist ziemlich einfach – Hierarchie. Im Mittelbau arbeiten Menschen mit mindestens fünf Jahren Studium und noch viel mehr Jahren Schule hinter sich. Sie sind sich klar hierarchische Verhältnisse also bereits gewohnt. Doch nach dem Master ändern sich die Dynamiken und das Machtgefälle entscheidend, vor allem im Verhältnis zu den Professor*innen. Diese entscheiden nun nicht mehr nur über akademische Leistungen. Ihr Einflussgebiet wächst um ein Vielfaches.
«Der*die Professor*in wird zu einer Art Halbgött*in», sagt Gael*, ebenfalls Teil des Mittelbaus: «Die Professor*innen sind die Herr*innen des Reichs, sie sind unantastbar.» So haben Professor*innen fast überall das letzte Wort. Sie entscheiden in den meisten Fakultäten im Alleingang über die Anstellungen der Promovierenden, der Postdocs und der Assistierenden. Die Löhne sind zwar standardisiert, nicht aber das Pensum. Auch die Dauer der Anstellung können die Professor*innen festlegen.
Wenn der Arbeitsvertrag unterzeichnet ist, nimmt die Abhängigkeit aber nicht ab – im Gegenteil. «Wenn du kein gutes Verhältnis hast, ist dein Leben die Hölle», fasst Gael zusammen. Denn die Dynamik ist klar: Ob es um Vertragsverlängerungen, Sprechen von Forschungsgeldern, konkrete Arbeitsaufträge, Empfehlungsschreiben oder Spesenausgleiche geht – alles hängt von den Professor*innen ab. Zwar können die Angestellten Beschwerde einreichen, doch das Machtgefälle hält sie meist davon ab. So wird unzureichende Symptombekämpfung betrieben, ohne ehrliche Lösungsansätze. Dieses derartig starke Ungleichgewicht ist nicht nur in sich problematisch, sondern hat noch weitere bedenkliche Konsequenzen.
Überstunden, Überstunden
Dem Mittelbau wird viel abverlangt. Ein gut quantifizierbares Beispiel sind Überstunden. Gemäss einer Umfrage der Gewerkschaft VPOD Zürich, an der mehr als ein Viertel des Mittelbaus der Uni Zürich teilgenommen hat, leisten 74 Prozent regelmässig Überstunden. Bei den Doktorierenden und Postdocs sind es sogar 80 Prozent. Fast die Hälfte der Befragten leistet 10 bis 20 Überstunden pro Woche, 14 Prozent sogar über 20 Überstunden pro Woche. Der Bericht der Umfrage enthält zudem Anmerkungen von Teilnehmer*innen. Sie sprechen von 60-Prozent-Pensen, in denen 100 Prozent Arbeit geleistet wird. Finanziell kompensiert werden trotzdem nur 60 Prozent. Überstunden würden von ihren Vorgesetzten erwartet und würden nun mal dazu gehören. Die Macht der Professor*innen ist auch hier wieder stark spürbar.
Ob standardisierte Löhne oder nicht – sie entscheiden schlussendlich trotzdem über das Gehalt. Sie können Überstunden verlangen und dann darüber entscheiden, ob diese kompensiert werden. Die Umfrage des VPOD fragte nicht, wie die Kompensation geregelt wird. Eine schweizweite Umfrage des Nationalfonds berichtet aber, dass weniger als die Hälfte der Doktorierenden und Postdocs ihre Überstunden kompensieren können. Da aber gemäss VPOD nur 25 Prozent eine Zeitbuchhaltung führen, kann an der Uni Zürich vermutlich noch seltener kompensiert werden. Zwar liegt ein wesentlicher Teil der Verantwortung hier bei den Professor*innen, doch das akademische System an sich lässt dies überhaupt erst zu.
Das Jonglieren der verschiedenen Aufgaben ist anspruchsvoll, etwas zu vernachlässigen ist schwierig oder nicht mit dem Gewissen zu vereinbaren. Ohne Administratives klappt es nicht, bei Aufgaben für die Vorgesetzten besteht die Abhängigkeit, an der eigenen Forschung hängt die eigene Zukunft und für die der Studierenden ist man auch verantwortlich. An sich schon genug Potenzial für Überstunden. Dazu kommt aber noch der entscheidende Punkt der befristeten Arbeitsverhältnisse: 96 Prozent der Doktorierenden und Postdocs sind nur für eine gewisse Zeit angestellt, die meisten nur ein oder zwei Jahre.
Neben dem anspruchsvollen Alltag müssen sie sich also auch darum kümmern, die nächste Anstellung zu finden. Für Menschen aus sogenannten Drittstaaten, also aus Nicht-EU- oder -EFTA-Ländern, ist dieser Prozess noch belastender. Ihre kurzfristige Anstellung ist an ihre Aufenthaltsbewilligung gekoppelt. Das Ergebnis: mehr Macht für die Professor*innen – und deutlich mehr Stress für Betroffene. Keine Vertragsverlängerung, keine Anschlusslösung oder eine frühzeitige Kündigung kann in diesem Fall einen Verlust des Visums bedeuten und die Betroffenen müssen das Land und ihr soziales Umfeld verlassen. Yasmine stammt aus einem solchen Drittstaat und ist bereits zum zweiten Mal in der Schweiz. Nach ihrem Studium in der Schweiz wurde sie des Landes verwiesen, obwohl sie einen Job in ihrem Bereich gefunden hatte. Zu wenig essenziell für die Schweiz sei sie gewesen. «Eine traumatische Erfahrung», sagt sie heute. Dass sie nun trotzdem wieder hier ist, sei ein ironischer Zufall.
Ohne Ersparnisse keine Chancen
Es gibt aber noch weitere Gründe, warum es für Menschen aus dem Ausland noch schwieriger sein kann. Wohnraum in Zürich ist teuer und knapp, Kautionen sind Standard und Nicht-Einheimische müssen teils einige Mieten vorschiessen. Dazu kommen hohe Lebenskosten. Ausgezahlt werden die Löhne aber jeweils frühestens nach dem ersten Monat. Zusätzlich werden Spesen für Konferenzen und Feldforschung erst nachträglich von den Professor*innen genehmigt – oder eben nicht. Für viele Menschen aus Ländern mit schwachen Währungen, tiefen Löhnen und mit wenig Ersparnissen ist dies schwierig bis unmöglich zu stemmen. Gael sagt: «Die Schweiz geht davon aus, dass jede*r 20'000 Franken auf dem Konto hat.»
Gemäss einer Umfrage des Schweizerischen Nationalfonds sind die meisten im Mittelbau zwischen 25 und 35 Jahre alt. In der Schweiz wird man durchschnittlich im Alter von 32 Elternteil. Überstunden, wenig Geld, befristete Verträge, je nachdem gebunden an die Aufenthaltsbewilligung oder wie es Gael zusammenfasst: «Leben als Postdoc bedeutet leben in ständiger Unsicherheit.» Alles andere als eine gute Lebensgrundlage für ein Kind. Menschen, die sich trotzdem für Kinder entscheiden, können zwar gegen Gebühr die ETH- und Uni-interne Kita nutzen.
Geschlechterdiskriminierung ist trotzdem ein Thema. In vielen Arbeitsfeldern sind Frauen immer noch benachteiligt, in der akademischen Welt ist es nicht anders. Auf die Frage, ob Yasmine zu Geschlechterdiskriminierung von der Uni Hilfestellung erhalten hat, antwortet sie schnell: «Nein. Nein. Ich war froh, hatte ich Bücher dafür». Einmal mehr hängt es hier an den Professor*innen. Ob und wie viele Menschen welchen Geschlechts sie anstellen wollen, ist je nach Fakultät vollständig ihr überlassen.
Die Zahlen der Abteilung für Gleichstellung der Uni Zürich sprechen hier für sich. 60 Prozent mit einem Masterabschluss sind Frauen, bei Doktorierenden sind es noch 55, bei Postdocs fällt die Zahl unter 50 Prozent und bei ordentlichen Professuren sind es weniger als 25 Prozent. Der Frauenanteil bei Professuren ist in den letzten Jahren zwar gestiegen, doch mehr Professorinnen vermögen die grundlegenden Probleme auch nicht vollständig zu lösen. Wie Gael sagt: «Es fehlen Kontrollmechanismen.»
*Namen durch die Redaktion geändert.