«Ungleichheit bildet den Nährboden für gewaltsamen Konflikt»

In einigen Regionen der Welt dominiert die Gewalt, in anderen geht es vergleichsweise friedlich zu und her. Ein Gespräch mit dem Politologen Enzo Nussio, der in Lateinamerika nach Friedensstrategien sucht.

Viviane Fluck (Interview) und Esteban Neugebauer (Foto)
9. Mai 2025
Nussio ist Förderprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Er leitet das Forschungsprojekt „Decades of Peace“.

Sie forschen zu Gewaltreduktion in Lateinamerika. Woher kommt Ihr Interesse an dem Thema?

Ich habe Geschichte, Philosophie und Medienwissenschaften in Basel studiert. Für politische Themen habe ich mich schon damals interessiert, aber Politikwissenschaft kam mir als angehender Student gar nie in den Sinn. Lateinamerika interessierte mich, weil ich per Zufall Kolleg*innen aus Mexiko fand, sie  besuchte und später   nach Kolumbien und in andere Länder Lateinamerikas reiste. Nach dem Studium war ich als Journalist tätig. Ich schrieb aber auch schon während des Studiums als freier Mitarbeiter für eine Regionalzeitung im Raum Basel. Die Arbeit als Journalist gefiel mir nach einiger Zeit nicht mehr, da es sehr hektisch zu und her ging. Man konnte sich nur wenig in ein Thema einlesen, doch dieser Teil der Arbeit gefiel mir eigentlich. Durch mein Interesse an Politik und Lateinamerika sowie einer grundsätzlichen Neugier für Ursachen und Lösungen von Konflikten kam ich auf mein Forschungsgebiet. Ich fand eine politikwissenschaftliche Doktoratsstelle am Lateinamerikazentrum in St. Gallen. Den grössten Teil davon verbrachte ich jedoch in Kolumbien und schrieb dort auch meine Dissertation.

Was genau erforschsen Sie?

In meiner Forschung geht es darum, zu untersuchen, wie Gesellschaften, in denen Gewalt eine häufige Form von sozialer Interaktion ist, weniger gewaltsam werden können. Dazu schaue ich mir bestimmte Regionen im Kontext eines gewaltvollen Landes an, spezifisch Kolumbien, in denen Prozesse der Gewaltreduktion stattgefunden haben: Wie sind diese Regionen friedlicher geworden? Was ist auf lokaler Ebene passiert? Aus diesem Wissen möchte ich ableiten, ob und wie man diese Prozesse von aussen antreiben kann.

Wieso gehören noch heute die Städte Lateinamerikas zu den gewalttätigsten der Welt?

Es gibt verschiedene Faktoren, die mitreinspielen. Manche haben etwas mit der Gesellschaft als Ganzes zu tun, andere mit der Stadt als physischen Ort. Grundsätzlich sind Gesellschaften in Lateinamerika sozial und ökonomisch sehr ungleich, wobei Kolumbien einen Extremfall darstellt. Es gibt viele sehr arme Menschen und wenige sehr reiche Menschen, und das generiert Konflikte. Es spiegelt sich auch im politischen Machtverhältnis wider: Die mit Geld können politisch Einfluss nehmen, andere haben diese Möglichkeit nicht. Der Staat ist deswegen auf die einflussreichen Bevölkerungsgruppen zugeschnitten und funktioniert für sie besser als für marginalisierte, ärmere Bevölkerungsgruppen. Es gibt eine Reihe an Faktoren, die zu Ungleichheiten beitragen und einen Nährboden für gewaltsamen Konflikt bilden. In der Stadt wird das noch viel deutlicher, weil dort das Zusammenleben auf engem Raum mehr Gelegenheit für Gewalt bietet.

Sie haben bereits Interviews mit verschiedenen Akteur*innen geführt. Wie reagieren diese Menschen auf Ihr Forschungsprojekt?

Wenn man das Gespräch richtig angeht, Dankbarkeit zeigt und ihnen zuhört, schätzen die Menschen es normalerweise sehr, auch wenn es um schwierige Themen wie Gewalt geht. Häufig haben die Menschen das Bedürfnis, davon zu erzählen. Gerade meine Rolle als Aussenstehender macht es für sie einfacher, etwas zu teilen, das sie sonst nicht teilen würden. Ich habe mit Menschen gesprochen, die selbst in Gewalt involviert waren, beispielsweise mit ehemaligen Kriegsteilnehmenden von Guerillagruppen oder Kriegsopfern, die vertrieben oder deren Ehepartner*innen getötet wurden. Das sind empfindliche Bevölkerungsgruppen, denen man mit Empathie und Verständnis begegnen sollte. Es ist wichtig, einen Zugang zu den Menschen zu finden, der sie unbesorgt reden lässt.

In einem Magazinbericht über Ihre Forschung steht, Escobar soll noch viel gewalttätiger gewesen sein als die Figur aus der Netflix-Doku «Narcos». Was halten Sie von der Netflix-Serie? Verharmlost und romantisiert sie gar Drogen und Gewalt? 

Ich kann verstehen, dass es Leute gibt, die ein spezielles Charisma haben, das man nicht so gut fassen kann und einen anzieht. Das hatte Pablo Escobar, eben weil er so mächtig war und so viele Personen kontrollieren konnte. Ich will niemanden beschuldigen, der eine solche Serie schauen will. Es ist derselbe Grund, weshalb Krimi ein beliebtes Genre ist: Die Charaktere sind uns befremdlich, ziehen uns aber auch in ihren Bann. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass dies nicht salonfähig oder zu etwas wird, das man nachahmen möchte. Sonst entstehen Tendenzen wie in Kolumbien, wo man vom «schnellen Geld», dem Drogenhandel, spricht. Ich hoffe also bloss nicht, dass die Serie Jugendliche motiviert, des schnellen Geldes wegen etwas Illegales zu tun, das extrem dramatische Konsequenzen haben kann. So war es bei Pablo Escobar: Es war nicht seine anfängliche Idee, tausende von Menschen umzubringen, aber es ist ihm «passiert» und dafür war er natürlich verantwortlich. Wir müssen aufpassen, sowas nicht cool oder lässig zu finden. Wenn man die Serie nur auf Netflix schaut und sie als Warnung wahrnimmt, dann ist das vielleicht gar nicht so schlecht.

Weshalb geht es in der Schweiz relativ friedlich zu und her?

Die häufigsten Gewaltformen hier sind Diebstähle, Einbrüche und häusliche Gewalt. Homizide gibt es in der Schweiz sehr wenig. Die wenigen, die es gibt, sind häufig Femizide, wo ein Mann seine Partnerin umbringt. Man muss sich aber bewusst sein, dass es in unserer Gesellschaft heute so wenig Gewalt gibt wie vielleicht noch nie zuvor. Dahinter steckt ein langer Prozess. 

Der wäre?

Im Mittelalter hatten wir in der Schweiz eine ähnliche Homizidrate wie heute in den gewaltvollsten Ländern. Als sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert die Staatlichkeit in der Schweiz ausbaute, sank die Homizidrate deutlich. Die Staatlichkeit arbeitete Regeln aus, machte das Leben erwartbar, gab den Bürger*innen eine Möglichkeit, ihre Konflikte auf geordnete Art und Weise zu schlichten und stimmte mit den moralischen Vorstellungen der Bürger*innen überein. Dass man in der Schweiz bereits eine lange Tradition von Mitsprache pflegte, half dabei, ein staatliches Regelwerk aufzubauen, das dem entsprach, was die grosse Mehrheit für richtig hielt. Dieser Prozess führte über die Jahrhunderte zu einer massiven Gewaltreduktion in der Schweiz und umliegenden Ländern in Europa. Die Schweiz ist dabei kein Ausnahmefall, deswegen glaube ich nicht, dass die Demokratisierung der ausschlaggebende Mechanismus war, sondern eher das Ausbilden einer Staatlichkeit, die dem entspricht, was die Leute erwarten und für richtig halten. Das konnte man auch ausserhalb von Demokratien beobachten.

Welche Rolle spielt die Polizei bei der Gewaltreduktion in einem Staat? 

Die Polizei an sich reduziert Gewalt nicht, sie kommt eigentlich immer zu spät – wenn Gewalt schon passiert ist. Ein viel wichtigerer Mechanismus zur Reduzierung von Gewalt ist die Erwartung, dass es eine Bestrafung  für das gibt, was man falsch macht und das Wissen, dass der Staat legitimes Recht durchsetzt, das den eigenen Überzeugungen von Recht entspricht. Dann kommt man gar nicht dazu, sich gegen die Gesetze zu verhalten, weil man die Gesetze für richtig hält. Über Legitimität und ein gewisses Mass an Abschreckung kann ein Staat ziemlich viel erreichen. Bei der Abschreckung ist die Polizei auch ein wichtiges Element, aber schlussendlich ist sie nicht das wichtigste Element zur Gewaltreduktion.

Der Präsident von El Salvador, Nayib Bukele, führt eine harte Offensive gegen das organisierte Verbrechen. Diese gipfelte in der Eröffnung des Mega-Gefängnisses für 40’000 Gang-Mitglieder. Dabei landen auch Unschuldige im Gefängnis. Was hältst du von seinen Massnahmen?

Es handelt sich um ein Land, das enorm unter Gewalt gelitten hat, besonders von Strassengangs. Das sind mächtige kriminelle Organisationen, welche die Bevölkerung terrorisierte. Viele Leute mussten Schutzgelder zahlen oder ihre Kinder wurden rekrutiert. Die Situation war wirklich schlimm. Dann griff Nayib Bukele, Präsident von El Salvador, zu diesem massiven Mittel und liess diese riesigen Gefängnisse bauen. Die verdächtigten Gangmitglieder wurden mehr oder weniger ohne Prozess zu Tausenden eingesperrt. In diesem Kontext hat das wirklich funktioniert: Die Gewalt nahm enorm ab. Doch die Kosten dafür sind massive Menschenrechtsverbrechen gegenüber jenen, die nun fälschlicherweise im Gefängnis sitzen. In einem Fall wie El Salvador, wo massive Gewalt herrschte und jeden Tag Menschen umgebracht wurden, kann ich nachvollziehen, dass das manche gutheissen. Ich glaube nicht, dass das der ideale Weg ist und frage mich, ob es nachhaltig ist – das wird sich zeigen.

Man hört oft, Forschung sei bloss theoretisch und mache keinen Unterschied «im echten Leben». Inwiefern kann Ihre Forschung spürbar etwas bewirken?

Das ist eine wichtige Frage. Je nachdem ist es schwierig, meine Forschung in die Realität umzusetzen, denn vielleicht muss ich feststellen, dass man gar nichts tun kann, da es Prozesse sind, die keinem konkreten Schema folgen. Aber auch das ist relevant zu wissen, denn dann könnte man sich das Geld auch sparen (lacht). Für mich ist es entscheidend, bei Projekten von Anfang an mit relevanten Akteur*innen in Kontakt zu sein. Kürzlich hielt ich zum Beispiel bei der Polizei in Kolumbien eine Präsentation und führte einen Dialog mit ihnen. Das gibt mir einen Realitätscheck: Macht das, was ich erforsche, überhaupt Sinn? Ist es relevant für sie? Auch in der Schweiz versuche ich, Dialoge mit verschiedenen Institutionen aufrechtzuerhalten. Durch Präsentationen möchte ich meine Forschung an die breite Bevölkerung bringen und sie so zugänglicher machen. Gerade mache ich bei «Pint of Science» in Zürich mit. Da werden während ein paar Tagen im Mai wissenschaftliche Vorträge in Pubs gehalten. Schliesslich ist es Ziel meiner Forschung, einen hilfreichen Beitrag zum Verständnis von Gewaltreduktion zu leisten.