Miriam Suter und Natalia Widla veröffentlichten ihr zweites Buch. Foto: Ayse Yavas.

Sie schauen auf den Täter

Natalia Widla befasst sich gemeinsam mit Miriam Suter in ihrem neuen Buch «Niemals aus Liebe» mit Männern, die Frauen töten. Sie wollen sie nicht entschuldigen, sondern verstehen.

Merret Gregor (Interview)
20. Februar 2025

Natalia Widla, Ihr letztes Buch handelt von sexualisierter Gewalt. Wie entstand die Idee für das jetzige Buch «Niemals aus Liebe» und wo besteht der Zusammenhang zwischen den beiden? 

Miriam Suter und mich beschäftigten im Laufe der Arbeit am ersten Buch «Hast du Nein gesagt?» immer wieder die Täter. Wir fragten uns: Wie kann es zu solchen Taten kommen? Wer sind diese Männer? Das zweite Buch ist nicht unbedingt als Fortsetzung des ersten zu verstehen. Es geht darin auch um Femizide und die Gewaltpyramide. 

Das Buch haben sie vor allem für Männer verfasst. Was heisst das? 

Das ist Wunschdenken von unserer Seite. Wir können keine umfassende Veränderung erreichen, wenn Männer sich nicht beteiligen und aktiv am Diskurs teilnehmen. Es ist unser Wunsch, dass Männer das Ausmass des Problems erkennen und sich damit auseinandersetzen. Dazu gehört, aufzuhören, die Opfer zu beschuldigen und stattdessen zu beginnen, Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutet nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch für ihr Umfeld. 

Wie beeinflussen stereotype Täterbilder die Prävention und Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt? 

Leider hält sich bis heute das Bild, dass der Täter bei sexualisierter Gewalt ein Fremder ist. Tatsächlich kennen aber über 80 Prozent der betroffenen Frauen den Täter aus ihrem nahen Umfeld. Diese falsche Annahme lenkt den Fokus auf das Opfer, dem geraten wird, sich zu schützen, statt auf die Täter. Die echten Täter fühlen sich dadurch nicht angesprochen. Auch institutionell wirkt sich diese Annahme aus: Vergewaltigung in der Ehe wurde in der Schweiz erst 2004 zum Offizialdelikt, was zeigt, wie stark die Idee verankert ist, dass Fremde die Hauptgefahr sind. Diese Sichtweise führt zu rassistischen Vorurteilen und ist zudem im Bereich der sexualisierten Gewalt nicht zielführend. 

Wie bewerten Sie die Haltung der Justiz gegenüber Frauen? 

Es gibt nicht «die Justiz» als Einheit. Viele engagierte Opferanwält*innen, meist Frauen, leisten grossartige Arbeit. Auch die Polizei in der Schweiz bemüht sich um Fortschritte: Es gibt Fortbildungen, neue Ressourcen und kleine Abteilungen, die sich mit dem Thema befassen. Doch es bleiben große Herausforderungen. Das Justizsystem sorgt dafür, dass jede*r eine Verteidigung erhält – das ist wichtig. Allerdings führt das oft zu Täter-Opfer-Umkehr und Schuldzuweisungen, die wie Stammtischpsychologie klingen: «Das bildest du dir ein» oder «Du wurdest schon als Kind missbraucht.» Solche Aussagen habe ich selbst bei Prozessen gehört. Auch Kommentare von Richter* innen können retraumatisierend sein und Betroffene davon abhalten, sich zu wehren. 

Sie haben vielen Gerichtsverhandlungen beigesessen und betonen im Buch, dass auch Täter als Menschen betrachtet werden sollten. Wo sehen Sie die Grenzen der Empathie und des Verständnisses? 

Verstehen heisst nicht entschuldigen. Um jemanden zu verstehen, brauche ich ein gewisses Mass an Empathie. Dann kann ich nachvollziehen, warum du in einem bestimmten Moment so gehandelt hast, auch wenn ich dieses Verhalten widerlich und abstossend finde. Empathie für Täter ist nötig, um zu verstehen – nicht, um zu entschuldigen. Nur so erkennen wir, dass Täter ganz normale Männer sind, wie unsere Väter, Freunde, Partner, Brüder und nicht in erster Linie fremde Psychopathen oder Monster, wie in Filmen dargestellt. Wenn wir effektive Prävention schaffen wollen, müssen wir verstehen, warum Täter so denken und handeln. 

Wie prägt die Popkultur unser Verständnis von sexualisierter Gewalt und toxischen Beziehungen? 

Derzeit erleben wir eine rückwärtsgewandte Entwicklung. Es geht hier nicht nur um die derbe Sprache im Deutschrap, sondern auch um popkulturelle Mainstream-Lieder, die sexualisierte Gewalt oder sogar Femizide besingen. Ich fordere nicht unbedingt Zensur, aber die Künstler* innen müssen Verantwortung für solche Texte übernehmen. Dasselbe sehen wir in Büchern, Filmen und Serien. Wir brauchen eine bewusstere Generation von Konsument*innen, die verstehen, dass Liebe nichts mit Gewalt zu tun hat. Leider beobachten wir eine Art «Backlash», indem toxische Vorstellungen romantisiert werden. Dazu gehören etwa Männer, die Kontrolle ausüben, oder Frauen, die glauben, Eifersucht sei ein Zeichen von Liebe. Wir brauchen dringend Aufmerksamkeit, Bildung und gesunde Vorbilder. Die Populärkultur trägt hier eine grosse Verantwortung. 

Es gibt Fälle, in denen Opfer trotz vorheriger Anzeigen oder deutlicher Warnzeichen nicht geschützt wurden. Welche Verantwortung haben Institutionen wie die Polizei? 

Einerseits braucht es Straftatbestände, also Handlungen, die als Straftat eingestuft werden und somit auf Gefährdung hinweisen, etwa bei Stalking oder auffälligem Verhalten – und das, bevor es zu Gewalt kommt. Es sollte Mittel und Wege geben, um jemanden anzusprechen und Massnahmen zu ergreifen, wenn eine potenzielle Gefahr erkennbar ist. Gleichzeitig ist Prävention auch immer mit Überwachung verbunden, was problematisch sein kann. Massnahmen wie die Überwachung von Gefährdern, elektronische Fussfesseln oder die Auswertung von Telefon- und anderen Daten könnten durchaus hilfreich sein, aber sie bergen auch Risiken. Solche Technologien könnten missbraucht werden, etwa für rassistische Zwecke oder zur Überwachung politisch unbequemer Personen. Das klingt vielleicht etwas dystopisch: Natürlich ist das Leben der Opfer von grösster Wichtigkeit, aber es braucht klare gesetzliche Grundlagen, um Missbrauch dieser Technologien zu verhindern. 

Vor sechs Jahren wurde in der Schweiz die Istanbul-Konvention ratifiziert. Doch in der Praxis tut sich wenig. Welche Wirkung hat eine solche Konvention, wenn die Umsetzung nicht vorankommt? 

Es gibt in der Schweiz durchaus Massnahmen, die auf die Konvention zurückzuführen sind. So eine dreistellige Notrufnummer, die in diesem Jahr eingeführt werden soll, zudem wird die Zahl der Frauenhausplätze immer wieder überprüft und kritisiert. Die Istanbul-Konvention bietet einen wichtigen Referenzrahmen, auf den sich politische Akteur*innen berufen können. Sie müssen sich an klare Vorgaben halten, wie etwa die Anzahl an Frauenhausplätzen. Die Kantone müssen darauf reagieren und entsprechende Massnahmen umsetzen. Es wäre wünschenswert, wenn die Konvention schärfere Sanktionsmöglichkeiten hätte. Ein grosses Hindernis in der Schweiz ist der Föderalismus. Dieser erschwert die einheitliche Umsetzung der Vorgaben, da die Zuständigkeiten auf viele verschiedene Ebenen verteilt sind. 

Sie üben Kritik an der Medienberichterstattung über Gewalt an Frauen. Welche Verantwortung tragen die Medien in diesem Zusammenhang? 

Sie tragen eine sehr grosse Verantwortung. Berichterstattung prägt unsere Wahrnehmung von Gewalt. Es ist wichtig, Gewalt klar zu benennen, statt Euphemismen wie «Familiendrama» oder «Krise» zu verwenden, da solche Begriffe ein falsches Bild schaffen und oft eine beidseitige Schuld suggerieren. Häufig wird in der Berichterstattung auch der Täter ausgelassen – etwa in Formulierungen wie «Frau wird getötet» oder «Frau stirbt». Dies vermittelt das Bild, dass solche Taten einfach «passieren». 

Gab es Reaktionen auf Ihr Buch, die Sie überrascht haben? 

Wir waren nicht überrascht, sondern hatten damit gerechnet: Wir haben fast ausschliesslich mit Frauen über das Thema gesprochen. Das ist enttäuschend. Unsere Lesungen werden überwiegend von Frauen besucht, und auch auf Social Media wird das Buch fast nur von Frauen promotet. Natürlich freue ich mich über jede Frau, die sich engagiert, aber es zeigt, dass Männer sich kaum einbringen. Auch bei den Medienanfragen zeigt sich dieses Muster: Keine einzige Anfrage kam von einem Mann, und wir haben kein einziges Interview mit einem männlichen Journalisten geführt. Es scheint, dass Männer sich aus diesen Themen komplett herausnehmen, und das finde ich sehr traurig.

Das Buch «Niemals aus Liebe» ist für 32 Franken in der Buchhandlung sec 52 erhältlich.