Der neue Roman der Ostschweizerin Anna Stern «das alles hier, jetzt» hat den Schweizer Buchpreis 2020 gewonnen. Cover/Elster-Salis Verlag

Zwischen Damals und Jetzt

Wohin mit der Trauer und dem gemeinsam Erlebten, wenn eine geliebte Bezugsperson stirbt? Anna Sterns neuer Roman «das alles hier, jetzt» erzählt von Verlust, und ist ein besonderes Leseerlebnis.

7. November 2020

«das alles hier, jetzt» beginnt mit einem Tod. Mit knapp fünfundzwanzig Jahren verstirbt Ananke viel zu früh und reisst eine schmerzhafte Wunde in die Leben ihrer Familienmitglieder und Freunde. Auch Ichor verliert den Boden unter den Füssen und quält sich durch schlaflose Nächte, Panikattacken, Selbstverletzungsphasen und Therapiesitzungen. Die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit und Jugend sind in den Monaten nach Anankes Tod sowohl Zuflucht als auch Fluch, da der Strudel der Vergangenheit Überhand zu nehmen droht. Die Freunde Ichor, Eden, Vienna und Cato müssen erkennen, dass die Gegenwart die Vergangenheit auf ewig verändert hat: «das problem ist, so seid ihr übereingekommen, die schiere menge an erinnerungen, dass es euch unabhängig von ananke, gar nicht gibt.»

Der neue Roman der Ostschweizerin Anna Stern ist aussergewöhnlich.Die lebendigen Beschreibungen der Erinnerungen zeichnen ihn aus. Die Leser*innen sitzen mit den Figuren am Lagerfeuer, verbringen Nächte im Stall und spüren die Brennnesselstiche an den eigenen Schienbeinen pochen. Nicht umsonst hat der Roman den diesjährigen Schweizer Buchpreis gewonnen.

Sterns virtuoses Spiel mit der Zeit

Vier Romane und ein Erzählband hat die 1990 in Rorschach geborene Anna Stern bereits veröffentlicht. Bemerkenswert, weil Stern nebenbei an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften studiert hat und seit 2018 dort am Institut für Integrative Biologie doktoriert. Mehrere Preise erhielt die Autorin schon für ihr literarisches Schaffen, unter anderem den 3sat-Preis der Klagenfurter Literaturtage.

Die Literaturwissenschaftlerin Hildegard Elisabeth Keller lobte damals in Klagenfurt das «virtuose Spiel mit der Zeit», das Stern in ihren Texten gelingt. In «das alles hier, jetzt» beweist Stern abermals dieses Können: Im Roman läuft die Zeitebene der Gegenwart und die der Vergangenheit als zwei farblich abgetrennte Handlungsstränge parallel nebeneinander – linksseitig gedruckt das Jetzt, rechtsseitig das Damals. Diese originelle Form fordert einen ungewöhnlichen Lesefluss, da sich die Erinnerungspassagen zum Teil über mehrere Seiten erstrecken und zurückgeblättert werden muss, um die Gegenwartsebene weiterzuverfolgen. Die Grenzen zwischen den Zeitebenen verschwimmen – der Sog der Erinnerungen wird auch für die Leser*innen erfahrbar: «der dünne film, der damals von jetzt trennt, wahnsinn von realität, dich und mich, verliert zunehmend an substanz.»

Mut zur Lücke

Die Medaille hat aber eine Kehrseite: Die Parallelführung von Jetzt und Vergangenheit lässt die Gegenwart streckenweise allzu konstruiert erscheinen. Ichors Liste an Reaktionen auf Anankes Tod ist lang und es wirkt an manchen Stellen so, als würde Stern dabei eine Aufzählung abarbeiten. Denn zu viele von Ichors Trauer-Handlungen reisst Stern an, ohne sie nochmals aufzugreifen oder weiterzuführen.

Dieses Manko schmälert aber nicht das eindrückliche Leseerlebnis. Stern findet dabei einen Weg, geschlechtsneutral zu erzählen: Weder die pseudonymen Namen noch die Pronomen geben Aufschluss auf das Geschlecht einer Figur. Auch Sterns zarte Sprache, mit der sie meisterhaft die zerbrechliche Atmosphäre kreiert, überzeugt von der ersten Seite an. Wer Sterns Schreibstil kennt, weiss: Diese Autorin erklärt nicht unnötig und spielt gerne mit inhaltlichen Leerstellen. «das warum ist, wie immer, sekundär», legt sie während eines Streits der Figur Cato in den Mund. Die Gründe für Anankes Tod bleiben nur angedeutet, was aber bereichernd für die Geschichte ist. Der Umgang mit Verlust und Erinnerung steht somit im Zentrum.

«das alles hier, jetzt» von Anna Stern ist im Elster & Salis Verlag erschienen.