En garde! #3/20: Sommer am Letten

En garde!

10. Mai 2020

Pro — Als Dorfkind hat mich an Zürich immer das Urbane fasziniert. Die Badenerstrasse ist für mich eine Allee, das Lochergut eine Instanz und der Sechseläutenplatz eine Esplanade. Aber was mich jedes Jahr aufs Neue begeistert, sind die beiden Letten. Wie können ein paar Bretter, Eisenstangen und Betonplatten eine derartige Oase mitten in der Stadt erschaffen? Eine Antwort habe ich nicht, aber es spielt keine Rolle. Auf wundersame Weise von den stinkenden Autos abgeschirmt, kann ich ins Wasser springen und mich treiben lassen. Ich kann barfuss über heissen Asphalt staksen, dabei Dosenbier schlürfen und zusehen, wie sich Leute über andere Leute und deren Gebaren aufregen. Zwischen Sixpacks und Hipster-Sonnenbrillen hat es an den zwei Letten-Küsten alles – sogar Hits aus dem Jahr 2009. Mir ist es egal, denn ich finde es schön, dass Zürich hier nicht Bahnhofstrasse ist, sondern etwas zwischen Copacabana und Mallorca. Und wenn ich meine Ruhe haben will, lese ich ein Buch und der Hintergrundlärm verwandelt sich in Meeresrauschen. [Jonathan Progin]

Kontra — Ich wohne in fünfminütiger Gehdistanz vom Zürcher Sommerparadies schlechthin. Bei der Suche nach einer Nachmieterin für mein Zimmer war das dann auch immer die meistgestellte Frage: «Dann seid ihr im Sommer sicher immer beim Letten anzutreffen?» Meine Antwort ist ein klares «Nein». Denn nichts graut mir mehr, als die Anhäufung schwitziger, sonnenverbrannter Körper auf engem Raum, wohin das Auge blickt. Klar geniesse ich die beiden Letten – aber eben eher in kühleren Jahreszeiten, wenn man sich ungestört fortbewegen kann. Will ich in den Sommermonaten am Fluss entlang spazieren, wähne ich mich eher auf einem Shoot für «Love Island» denn in Zürich. Überall flexen Sonnenanbetende ihre definierten Muskeln, präsentieren ihre straffen Bäuche und die neueste Bademode. Da entfliehe ich lieber in eine weiter entfernt gelegene, aber ruhigere Badeoase, statt beim Zürcher «Who’s Who» mitzumachen. Und freue mich bereits auf den Herbst, wenn der erste Frost die Scharen verschwinden und die Limmat wieder etwas aufatmen lässt. [Noemi Ehrat]

Mit Illustrationen von Sumanie Gächter.