«Brücken bauen, die halten»
Die Rektorin Sarah Springman über Elite, Leistungsdruck und die tiefe Frauenquote an der ETH Zürich.
Frau Springman, was bedeutet für Sie Elite?
Ich mag den Begriff nicht besonders. Mir ist wichtiger, dass unsere Studierenden die Möglichkeit haben, ihr Potenzial auszuschöpfen. Dass sie den Mut haben, Dinge auszuprobieren, auch wenn sie nicht immer erfolgreich sind. Dass sie auch im Arbeitsleben auf das zurückgreifen können, was sie hier gelernt haben. Das ist unser Anspruch und nicht, dass wir als Elitehochschule wahrgenommen werden.
Trotzdem haben Sie in einem Interview die beiden ETHs mal als «Oxbridge der Schweiz» bezeichnet und somit mit den beiden Eliteunis Oxford und Cambridge verglichen. Was macht die ETH Zürich zur Eliteschule?
Eine interessante Frage. Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage: Was macht Oxbridge für Sie zur Elite?
Auffallend viele Abgängerinnen und Abgänger aus Oxford oder Cambridge, aber auch aus den Ivy-League-Universitäten in den USA, besetzen wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft.
Da haben Sie die Antwort. Denn bei der ETH verhält es sich ähnlich. Ähnlich wie Oxford und Cambridge verfolgen wir die Politik, die besten Leute anzuziehen. Ich selbst habe in Cambridge studiert, und was mir bis heute auffällt: Wenn ich jemanden im Ausland treffe, der oder die auch in Cambridge oder Oxford studiert hat, dann sind wir sofort miteinander verbunden. Ähnlich geht es wohl auch Absolventinnen und Absolventen der beiden ETH. Deshalb will ich auch die Verbindung mit der EPFL in Lausanne noch weiter ausbauen. Am Schluss geht es darum, ein möglichst gutes Netzwerk unter den Alumni und Alumnae aufzubauen.
Wer sich für die ETH entscheidet, entschliesst sich zu einem strengen Studium. Lange Arbeitstage, anspruchsvoller Stoff, wenig Ferien. Warum ist dieser immense Leistungsdruck nötig?
Weil wir den Anspruch haben, ein gewisses Qualitätsniveau zu erreichen. Ein Beispiel: Ich bin Bauingenieurin. Und als solche erwarte ich, dass meine Studierenden am Schluss eine Brücke bauen können, die hält. Es ist uns aber nicht nur ein Anliegen, dass sich unsere Studierenden zu Experten und Expertinnen entwickeln können. Wir wollen sie auch dabei unterstützen, sich zu kritisch denkenden Menschen zu entwickeln, die später Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen können.
30 Prozent der Studierenden, die ein ETH-Studium anfangen, verlassen die ETH ohne Abschluss. Sind sie schlicht zu wenig gut für die ETH?
Die ETH steht als öffentliche Hochschule allen Maturandinnen und Maturanden offen. Deshalb brauchen wir andere Möglichkeiten, um herauszufinden, wer für ein ETH-Studium geeignet ist. Dafür sind die Basisprüfungen nach dem ersten Studienjahr da. Ich will allerdings nicht, dass begabte Leute ihr ETH-Studium nicht weiterführen können, weil die Basisprüfungen eine zu grosse Hürde sind. Deshalb sind wir laufend daran, das System zu verbessern. So haben wir versuchsweise die Basisprüfungen in einigen Studiengängen geteilt, damit die Studierenden selbst möglichst früh eine Rückmeldung bekommen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Wir müssen unbedingt unser Qualitätsniveau halten. Denn die späteren Arbeitgebenden erwarten von den Abgängerinnen und Abgängern schlicht sehr viel.
Wäre es Ihnen lieber, die Basisprüfungen würden zugunsten einer Aufnahmeprüfung abgeschafft?
Nein. Jedes System hat Vor- und Nachteile. Vorteil des Schweizer Systems ist, dass alle frei entscheiden können, was sie studieren wollen. Es ist an uns, den Neustudierenden zu helfen, sich in ihrem Studium zurechtzufinden. Auch sind nicht alle Maturanden und Maturandinnen auf demselben Niveau, wenn sie zu uns kommen, und sie haben nicht alle dasselbe Potential. Aus diesen Gründen ist das Basisjahr sinnvoll.
Sie sind nun etwas mehr als zwei Jahre im Amt. Wie fällt Ihr persönliches Fazit aus?
Ich bin zufrieden. Wir haben viel erreicht in den letzten zwei Jahren: Ich denke da beispielsweise an den Bachelorstudiengang Humanmedizin, den wir zusammen mit den Universitäten Basel, Zürich und Lugano verwirklichen konnten. Vier Hochschulen in so kurzer Zeit zusammenzubringen, ist unglaublich.
Wo sehen Sie Baustellen?
Ich würde nicht von Baustellen sprechen. Weiterentwicklung trifft es besser. Diese Weiterentwicklungen sind langfristig angelegt: Aktuell gehen wir mit Vertretern aus allen Departementen der Frage nach, was unsere Absolvierenden im Jahr 2030 brauchen werden.
Was werden sie brauchen?
Natürlich werden auch in Zukunft die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachkenntnisse zentral sein. Daneben wird aber die Fähigkeit, sich in multidisziplinären Teams zurechtzufinden und Wissen kritisch zu hinterfragen, immer wichtiger. Denn die Zeitspanne, in welcher das heute vermittelte Wissen durch neue Erkenntnisse ersetzt wird, wird immer kürzer. In der Informatik zum Beispiel ist heute gelerntes Wissen bereits zwei Jahre später nicht mehr aktuell.
Die ETH taucht regelmässig in den Top-Rankings der Unis weltweit auf. Das ist erstaunlich, ist doch die ETH im Gegensatz zu anderen Top-Unis eine öffentlich finanzierte und zugängliche Hochschule. Wie schafft es die ETH im Konzert der Grossen mitzuspielen?
Die ETH profitiert davon, dass sie viel Unterstützung durch den Bund erfährt und grosses Vertrauen geniesst. Nur so können wir die Bedingungen schaffen, um die besten Leute auf allen Stufen anzuziehen. Für mich ist das vergleichbar mit einem Sportteam. Man muss den Ambitioniertesten die Möglichkeit geben, zu brillieren, um damit andere anspornen zu können. Die Schulleitung setzt Ziele und schafft optimale Rahmenbedingungen. Aber erst die Autonomie der Forschenden erlaubt es der ETH, auf Dauer erfolgreich zu sein.
Wie wichtig sind Ihnen diese Spitzenplatzierungen in den Rankings?
Es freut mich natürlich, dass die ETH in diesen Rankings so weit oben anzutreffen ist. Die ETH richtet ihre Lehre und Forschung aber nicht danach aus, in diesen Rankings gut abzuschneiden. Unsere Ziele sind vielmehr: Exzellente Lehre. Brillante Forschung. Und natürlich ist es uns ein Anliegen, dass das erlernte Wissen in die Gesellschaft getragen wird.
Stichwort Exzellenz: Da die ETH Weltruf geniesst, zieht sie auch immer mehr Studierende aus dem Ausland an. Auf Bachelorstufe sind es knapp 20 Prozent, auf Doktorats- und Professorenstufe hingegen fast 70 Prozent. Wie erklärt sich diese Zunahme?
Erstens: Im Bachelor sind nur 13 Prozent der Studierenden Bildungsausländer. Die Differenz zu den von Ihnen angesprochenen 20 Prozent sind Studierende, die zwar keinen Schweizer Pass, aber in der Schweiz die Matura gemacht haben und deren Eltern in der Schweiz Steuern bezahlt haben! Zweitens: Viele Schweizerinnen und Schweizer wollen nach dem Master raus aus der Uni und rein in die Arbeitswelt. Obwohl über 95 Prozent der Bachelor-Absolventen und -Absolventinnen der ETH im Master erhalten bleiben, deckt dies den zukünftigen Bedarf des Schweizer Arbeitsmarktes noch nicht ab. Deshalb müssen wir im Master auch auf exzellente Studierende aus dem Ausland zurückgreifen. Nur stellt sich die Frage: Soll die ETH noch weiterwachsen?
Soll sie?
Ich finde nicht. Es fehlt der ETH schlicht an Platz, um noch weiterwachsen zu können. Es ist gut, wenn sich die Grösse der ETH im aktuellen Rahmen von etwa 500 Professorinnen und Professoren und 20'000 Studierenden einpendelt.
Ca. 95 Prozent der Bachelorstudierenden bleiben der ETH im Master erhalten. Wieviel Sinn ergibt da die Zweiteilung Bachelor/Master überhaupt?
Ich finde das System gut. Denn die Zweiteilung des Studiums erlaubt es den Studierenden, mit dem Master einen frischen Start hinzulegen. Und gerade weil wir im Master viele ausländische Studierende anziehen, ist das Bologna-System auch für die Internationalität und Exzellenz sowie für die Rekrutierung auf Doktoratsstufe wichtig.
An der ETH Lausanne wird laut über eine Studiengebührerhöhung nachgedacht. Wie sieht es an der ETH Zürich aus?
Diese Frage müssen Sie dem ETH-Rat stellen. Nur so viel: Wenn man die Studiengebühren erhöht, läuft man Gefahr, dass sich die Studierenden plötzlich als Kunden fühlen – und das sind sie nicht. Sie sind Studierende. Als Hochschule haben wir die Aufgabe, den Studierenden zu helfen, ihr Wissen und ihre Fertigkeiten zu erweitern. Diesbezüglich habe ich viel vom Schweizer System gelernt.
Mit anderen Worten: Sie selbst sind gegen eine Erhöhung?
(lacht) Das haben Sie gesagt.
Die Frauenquote an der ETH ist sowohl auf der Studierenden- als auch auf der Dozierendenseite tief. In Zahlen: 30 Prozent Studentinnen und nur gerade 13 Prozent Professorinnen. Sehen Sie das als Problem?
Wir befinden uns in einer Entwicklungsphase. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die erste Professorin an der ETH erst 1985 berufen wurde. Als ich 1997 an die ETH kam, war ich erst die neunte ordentliche Professorin. So gesehen hat sich schon viel getan. Wir sind auf einem guten Weg.
Aber warum ist die Quote auf der Studierendenseite nach wie vor so tief?
Das mag irritieren, denn eigentlich machen heute mehr Frauen als Männer die Matura. Zwischen den einzelnen Profilen gibt es aber grosse Unterschiede. So liegt der Frauenanteil im mathematischen Profil, aus dem die meisten Studierenden an die ETH kommen, nur bei 40 Prozent. Wir können also nicht erwarten, dass kurzfristig gesehen gleich viele Männer wie Frauen an der ETH studieren werden. Ich sehe aber, dass wir uns in Richtung 40 Prozent bewegen werden. Damit wäre ich zufrieden.
Sie sind Rektorin einer Tophochschule. Sie sind Spitzenwissenschaftlerin. Sie sind jahrelang Triathlon gelaufen. Mein Tag hat 24 Stunden. Wie schaut es bei Ihnen aus?
(lacht) Meiner auch. Ich setze mir klare Prioritäten. Ich überlege mir fortlaufend, was meine Ziele sind, und organisiere dann dementsprechend. Ich habe mal gelesen, dass nur rund vier Prozent der Entscheidungen, die wir treffen, bewusste Entscheidungen sind. Es geht also darum, das Unbewusste ein wenig zu steuern. Meiner Meinung nach braucht man, um erfolgreich zu sein, etwas Talent und ein paar klare Ziele. Der Rest ist harte und konsequente Arbeit. ◊