Ueli Mäder: «1:12 ist ein sehr grosszügiges Verhältnis» Stefania Telesca

«Es ist fatal, wenn Forschende sich für neutral halten»

Der Basler Soziologe Ueli Mäder spricht an den linken Hochschultagen über Normativität in der Forschung. Wir fragten ihn, wie neutral seine Studien sind, was er uns für Abstimmungsempfehlungen gibt und wie politisch seine Studierenden sind.

8. Oktober 2013

Ueli Mäder ist ein streitbarer Wissenschaftler. Seine Studie «Wie Reiche denken und lenken» (meist rezipierte Aussage: Drei Prozent der Schweizer Bevölkerung besitzen so viel wie die restlichen 97 Prozent zusammen) wurde bejubelt und verteufelt. Der Basler Soziologie-Professor gab sie im Jahr 2010 mit Sarah Schilliger und Ganga Jey Aratnam heraus. Die NZZ berichtete zuerst gar nicht darüber und schob dann nach, es handle sich um «tendenziöses Gerede». Die «Weltwoche» druckte einen Artikel in dem Mäder persönlich angegriffen wurde und brachte die Studie mit seinem politischen Engagement in Zusammenhang. Mäder war vor seiner Berufung zum Professor zehn Jahre für die linke Partei POCH (Progressive Organisationen der Schweiz) und später für die Gruppe «Basels starke Alternative» (BastA) als Fraktionschef im Basler Grossen Rat. Am Donnerstag, 10. Oktober, spricht Mäder an den «Linken Hochschultagen» zum Thema: «Soziale Ungleichheit. Wie normativ muss Forschung sein?». Die ZS wollte von ihm schon vorher wissen, wie politisch Forschung sein darf oder sein muss.

Herr Mäder, machen sie parteiische Forschung?

Ich weiss nicht, ob parteiisch das richtig Wort ist, aber ich habe eine Haltung. Ich orientiere mich an Werten. Gerechtigkeit ist für mich ein solcher Wert. Wir müssen uns aber immer wieder darüber verständigen, was das bedeutet.

Was bedeutet Haltung für sie und was Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit ist für mich, wenn sich eine Gesellschaft demokratisch am Wohl aller Mitglieder orientiert. Ich will einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Nicht durch Postulieren, sondern indem ich genau hinschaue. Forschen muss Entdecken sein. Ich komme oft zu Ergebnissen, dir mir gar nicht passen.

Machen Sie ein Beispiel.

Wir haben letztes Jahr mit Ganga Jey Aratnam eine Studie gemacht zur beruflichen Integration von gut qualifizierten ausländischen Jugendlichen. Wir haben festgestellt, dass die kleinste Hürde bei Grosskonzernen und die höchsten Hürden beim Staat und bei sozialen Einrichtungen bestehen. Mir hat das richtig wehgetan. Die «Weltwoche» hat dieser Erkenntnis dann eine ganze Seite gewidmet.

Sie haben mal gesagt, in der Soziologie gehe es nicht nur um Theorie, sondern immer auch um Politik. Ich nehme sie beim Wort. 1:12-Initiative, Ja oder Nein, was empfehlen Sie?

Als Wissenschaftler kann ich diese Frage nicht einfach beantworten. Als politischer Bürger schon. Ich stimmte Ja, auch wenn ich 1:12 immer noch ein sehr grosszügiges Verhältnis finde.

Sie befürworten aber in wissenschaftlichen Arbeiten den Mindestlohn. Über den werden wir auch bald abstimmen.

Natürlich kann ich Ihnen wissenschaftliche Argumente angeben, die für einen Mindestlohn sprechen. Heute reicht eine 100-Prozent-Stelle häufig nicht mehr, um eine Familie zu ernähren. Dies führt zu Stress und wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Ein Mindestlohn könnte hier Leid verringern. Auch für die «1:12»-Initiative gibt es Argumente aus der Wissenschaft. Studien kommen zum Schluss, dass ein tieferer Einkommensunterschied besser ist für das Wohlbefinden der Einzelnen in einer Gesellschaft. Die Wissenschaft kann aufzeigen, welche Folgen eine Entscheidung haben könnte. Sie darf aber den demokratischen Entscheidungsprozess nicht vorweg nehmen. Letztlich braucht es die Debatte und einen politischen Entscheid.

Was ist der Unterschied zwischen einem Wissenschaftler und einem Politiker, sie waren schon beides.

Auch Politikerinnen und Politiker sollten zuerst Sachverhalte ursächlich ergründen. Und nicht heute handeln, und erst morgen denken. Wir Wissenschaftler sind aber weniger davon getrieben, konkrete Lösungen präsentieren zu müssen. Wir haben das Privileg, uns mit mehr Abstand und verstehend sozialen Prozessen annähern zu können. Unser Seminar (Seminar für Soziologie der Universität Basel, Anm. der Redaktion) bekommt auch Anfragen für Aufträge, bei denen wir eine Situation analysieren müssten und konkrete Handlungsanleitungen geben sollten. Das können wir aber nicht. Entscheiden muss die Politik.

Sie schrieben einmal, dass auch Forschung, die sich neutral gibt, «sich unbemerkt an herrschaftlichen Ideologien» orientiert. Was meinen sie damit?

Naturwissenschaftler sagen mir, dass sie zuerst forschen und erst dann interpretieren. Eine solche Haltung ist blind dafür, wie man überhaupt zu einer Forschungsfrage kommt. Warum diese Frage und nicht eine andere gestellt wird, ist kein Zufall. Es ist fatal, wenn Forschende denken, sie seien neutral. Es ist wichtig, sich eigener Vorannahmen und Haltungen bewusst zu sein.

Sollte Wissenschaft denn nicht neutral sein?

Klar müssen wir versuchen, soweit möglich Objektivität zu erlangen. Wir müssen Methoden und Korrektive finden, die verhindern, dass wir auf die Welt projizieren, was wir vorher schon im Hinterkopf haben. Aber die 100-prozentige Objektivität gibt es nicht. In den 70er- und 80er-Jahren gab es die «Aktionsforschung». Forschende mischten sich unter die Leute, über die sie schreiben wollten und prägten die Dynamik stark mit. Einige, die das getan haben, kritisieren diese Methode heute als unwissenschaftlich. Ich persönlich halte nach wie vor sehr viel davon. Es ist eine Chance, wenn man in ein Feld hineingeht und die Situation aus der Nähe beschreiben kann. Mann muss sich aber immer bewusst sein, wo man steht und beobachten lassen, wie man mit der eigenen Intervention das Forschungsfeld auch verändert. Wir brauchen immer Methoden, um uns selbst gegen zu checken.

Was meinen sie mit «herrschaftlichen Ideologien», die sich unbewusst in scheinbar neutrale Arbeiten einschleichen?

Es gibt einfache Prämissen, die nicht hinterfragt werden. Das kann die Grundannahme von «Rational Choice» sein, die sich am Steigern des Nützlichen orientiert, oder die Annahme, dass Konkurrenz zu positiven Ergebnissen führt. Oder einfach die Prämisse vom angeblich freien Markt, der die Versorgung aller optimiere. Weil diese Annahmen weitverbreitet sind, gelten sie als neutral. Dabei sind sie stark normativ.

In den 70er und 80er Jahren bezog jeder Forschende zumindest im Vorwort Stellung zum Weltgeschehen. Nach dem Ende der Sowjetunion machte niemand mehr das Maul auf. Wird die Forschung nun wieder politischer?

Ich komme aus der 68er Generation. Die Bekenntnisse von damals sind sympathisch, aber nicht per se gut. Zu sagen, «ich bin Marxist», reicht nicht. Man muss eine substanzielle und differenzierte Haltung einnehmen. Man hat sich zum Teil auch mit eigenen Überhöhungen um Selbstreflextion und kritisches Denken foutiert. Dagegen gab es eine Gegenbewegung, die für mehr Neutralität plädierte und das sozial Konstruierte radikalisierte. Dies führte dazu, in eine gewisse Beliebigkeit abzudriften.

Was beobachten sie bei ihren Studierenden. Versuchen sie möglichst neutral zu sein oder zeigen sie Haltung?

Da gibt es schon Unterschiede. Studierende der Ökonomie sind stärker auf den Schienen eines eng geführten pragmatischen Denkens. Die können mir mit angeblich wissenschaftlichen Formeln beweisen, warum 1:12 die Arbeitslosigkeit erhöhe. Das ist naiv. In der Soziologie ist das bei uns anders. Da gibt es viele engagierte junge Leute, die sich besonders für methodologische Debatten interessieren. Die sind auch weiter als wir 68er damals, als wir das Kapital zwar zweimal gelesen, aber streng und teilweise etwas mechanisch gedeutet haben. Die Mischung aus politischem Engagement und einer fundiert wissenschaftlichen Haltung, die ich bei vielen Studierenden und Mitarbeitenden wahrnehme, stimmt mich zuversichtlich.

Zur Person:

Ueli Mäder ist Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel und hat auch eine Professur an der Hochschule für Soziale Arbeit (Fachhochschule Nordwestschweiz). 1951 geboren, studierte er ab 1972 Soziologie, Psychologie und Philosophie. Nachher leitete er zehn Jahre eine Entwicklungsorganisation. Seit 1991 doziert er an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Nach seiner Habilitation 1998 ist er in Basel erst als Privatdozent und an der Uni Fribourg ab 2001 als Extraordinarius tätig. Seit 2005 hat er einen Lehrstuhl an der Uni Basel. Seine Schwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und die Konfliktanalyse.