«Die Aufmerksamkeit des Raumes liegt nicht auf dem DJ, sondern auf dem Publikum.» Wandler aka Michael Stutz. Boris Stoll

Wandler in der Nacht

Von illegalen Partys in die Zukunft: Michael Stutz spielt den härtesten Techno der Stadt. Seit 26 Jahren.

17. September 2013

Er steht im rot getönten Halbdunkel. Im Zürcher Club «Zukunft» dröhnen die dunklen Bässe seiner Musik durch den Raum. Die Partygäste tanzen mit gesenkten Köpfen. Der DJ spielt konzentriert. Ob vor tosenden Mengen oder wenigen Tanzwütigen, DJ Wandler ist vertieft in die Musik. Auch dann, wenn ihm kaum jemand zuhört. Der Meister der Musik hat in der Nacht die Fäden in der Hand. Sein Tag beginnt am Abend und sein Feierabendbier trinkt er an einer leeren Bar, wenn der Club geschlossen ist.

Wandler veranstaltet zusammen mit seinem Label Motoguzzi Records die Party in der «Zukunft». Sein böser Techno hat Wiedererkennungswert. Er ist der DJ mit dem härtesten Sound der Stadt.

Technologie statt Ideologie

Wenn Wandler den Club verlässt, ist es draussen bereits seit Stunden hell. Auf dem Weg nach Hause strömen ihm in der Bäckeranlage die Kreis-4-Mamis mit ihren Kinderwagen entgegen, um den Nachmittag an der Sonne zu verbringen. Nun heisst Wandler wieder Michael Stutz, und sein 11-jähriger Sohn spielt draussen, während sich der 38-Jährige müde ins verdunkelte Schlafzimmer legt.

Am Nachmittag geht es auch schon wieder weiter. Stutz hat schon unzählige Nächte durchgemacht. Er weiss, wie er trotz wenig Schlaf und zähem Nebel im Kopf die Reise nach Genf, zum nächsten Gig, antreten muss: Eine Zigarette auf den leeren Magen und an der ersten Raststätte Cola, Chips und ein gros­ses Fleischkäsesandwich. Durch die Autoscheiben blickt Stutz auf den vorbeiziehenden Aargau. Genau hier in Zofingen hat er mit zwölf die ersten Schülerdiscos veranstaltet. Mit den 100 Franken, die er für seine 19-bis-22-Uhr-Veranstaltungen bekam, kaufte er seine ersten Platten.

Stutz kleidet sich wie ein legerer Städter: Jeans, T-Shirt, eine Umhängetasche und eine schwarze Brille. Er zieht seine Beine an und beantwortet Fragen, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Mit 16 tauchte der Musikfanatiker in die Elektroszene ein. EBM und Industrial heisst die Musik, die er damals auflegte. Seinen Stil prägten Bands wie Depeche Mode, Robin Cristal und Front 242. Letztere waren bekannt für ihre radikalen Auftritte: Mit schwarzen Stiefeln und kugelsicheren Westen traten sie auf die Bühne und schrien «Discipline, discipline!». Stutz reiste durch die Schweiz und das nahe Ausland für Gruftie- und Waveparties, die in Kirchenkellern und Kneipen stiegen. Wo jeder jeden kannte und selbstgemachte Tapes herumgereicht wurden. Ihn faszinierte die düstere Szene, in der Musik mit Tasten und Knöpfen statt mit Instrumenten gemacht wurde.

Seine eigene Musik präsentierte der Musiker zunächst als geschminkte, singende, lärmende One-Man-Show «MIST» hinter einem Synthesizer.

Als er 1999 Unterstützung von einem Drummer bekommt, veröffentlichen sie ein Album. Kurz vor dem grossen Labelvertrag löst sich das Duo nach einem Streit auf. Schuld daran ist nicht zuletzt Stutz’ autoritäre Seite. Zu diktatorisch herrschte er über seine künstlerischen Visionen, als dass ein Partner neben ihm Platz hätte. Nach dem Bruch tauchte der Wirtschaftsinformatiker drei Jahre lang voll ins Berufsleben ab. Bis ein Freund und Arbeitskollege bei der Versicherung, der ebenfalls Musik produzierte, ihn wieder ins Studio mitnahm.

Harte Scheiben und illegale Parties

Seither ist viel Zeit vergangen. Hinter den Autoscheiben flimmert die vorbeiziehende Landschaft in der Hitze. Im Peugeot ist es stickig. Stutz erzählt von seinem Sohn Maurice, der die eine Hälfte der Woche bei der Mutter, die andere Hälfte bei ihm lebt. «Das geht gut so, weil wir Eltern nur fünf Minuten voneinander entfernt leben und Maurices Schule in der Mitte liegt.» Dann dreht sich das Gespräch wieder um Musik.

Wenn Wandler Musik in Worte packt, vermengt sich das Denken eines Wirtschaftsinformatikers mit der Sprache der Musik. Ein Musikset erscheint wie ein Prozess, der optimiert wird, eine Geschichte, die eine mathematisch-präzise Logik besitzt. Harmonien sind auch im Techno wichtig, viele der gros­sen DJs haben eine musikalische Ausbildung, und die Musik muss genauso komponiert werden, wie in jeder anderen Stilrichtung, erzählt Wandler. Er selbst ist Autodidakt. Trotz aller Systematik in seinen Tracks ist Musik für ihn ein kollektiver emotionaler Ausdruck. Sie widerspiegelt seine Stimmung und reflektiert gleichzeitig diejenige des Publikums, während sie die Menge durch die Nacht treibt.

Am Techno fasziniert Wandler, dass er mit einer schlechten Angewohnheit der massenfixierten Musikindustrie bricht, dem bis zur Übersättigung durchexerzierten Drei-Minuten-Song: Drei Strophen, Chorus und Bridge reichen im Techno nicht aus. Eingebettet in kommerzielle Vertriebskanäle werden zwar auch im Techno kurze Tracks produziert, sagt der DJ. Ein Set, die Königsdisziplin dieses Musikstils, gleicht aber viel eher einer Sinfonie, in der Musikfragmente so zusammenspielen, dass die Spannung steigt, wieder ausebbt und das Publikum über Stunden gebannt hält. Das Kunstwerk der DJs ist die Komposition dieser Dramaturgie. Die ästhetische Freiheit besteht im Auswählen und Zusammenstellen musikalischer Fragmente. Als DJ arbeitet Stutz wie ein Kurator der Musikwelt: Er präsentiert seine Auswahl von Tracks und schafft damit ein neues Gesamtwerk.

Ein solches Werk wollte Stutz schon damals erschaffen, als Mitte der 1990er die ersten Technoparties in Zürich gefeiert wurden. Er fing an, akribisch alles zu kaufen und zu hören, was aus dieser Musikecke zu bekommen war. Eine Clublizenz hatte kaum einer der damaligen Partyveranstalter. Die besten Raves fanden illegal statt, und wer auflegen wollte, musste Vinylplatten mitbringen. Im Studio seines Arbeitskollegen arbeitete Stutz nicht nur an neuer Musik, sondern kreierte auch ein neues Pseudonym: Wandler. Der Name steht für die Bewegung des DJs, der ständig unterwegs ist, gegen die Stromlinie von Nacht zu Nacht durch die Städte reist und im Zwielicht der Clubs seine Kunst zum Besten gibt.

In der Reitschule in Bern trat Wandler zum ersten Mal live auf. Auf Drängen seines Labels Motoguzzi Records hatte er sich für das CCC Festival angemeldet. Das Publikum war begeistert. Von da an folgte ein Angebot dem nächsten und Wandler legte bald in der ganzen Schweiz auf. Bis er 2006 beschloss, seinen Job zu künden und nur noch von der Musik zu leben.

Ein Publikum auf Drogen

In Genf angekommen, wird Stutz von einer Gruppe Produzenten, Freunde und DJs in einem kleinen Lokal empfangen. Mit dabei sind auch die DJs Opuswerk und Chaton, die tags davor in Zürich aufgelegt haben. Zu Burgern mit Ziegenkäse und Honig werden Partys und musikalische Neuerscheinungen in einer Mischung aus Französisch und Englisch diskutiert. Die jungen DJs bewundern Wandler und Chaton, die schon lange dabei sind und immer noch dran bleiben. Ausdauer und Bodenhaftung sind rare Eigenschaften bei DJs; und gleichzeitig die wichtigsten, um langfristig im Geschäft zu bleiben. Die Gruppe macht sich auf den Weg an eine frühabendliche Ambientparty am See. Nach einigen Bieren geht es weiter zum alternativen «Motel Campo». Der Club ist bunt gestrichen, durch die rot getönten Fensterscheiben blickt man auf das Genfer Industrieviertel.

Die DJs stellen ihr Equipment auf. Hinter der Bar werden Getränkeharasse gestapelt, um die eintrudelnden Gäste zu versorgen. Bereits kurz nach Mitternacht ist der Club voll und der erste DJ wärmt mit Housedie Menge auf.

Wandler muss die Menge manchmal erst zähmen, bevor er ihr seinen Sound entgegendonnern kann. Anders als bei Pop- oder Rockkonzerten sind die Boxen im Club nicht nur an der Front neben der Bühne installiert, sondern beschallen die Zuhörer aus allen vier Ecken. Die Aufmerksamkeit des Raumes liegt nicht auf dem DJ, sondern auf dem Publikum. Der Puppenspieler hinter den Platten sollte jedoch die Fäden nicht aus der Hand lassen. «Das Publikum zu treiben, es langsam dahin zu bringen, wo du sie um sechs Uhr morgens, durchgeschwitzt haben willst, ist etwas vom Besten am Auflegen», sagt Wandler. «Du fängst langsam an. Störst sie ein bisschen beim Reden und Draufsein und nach und nach schmetterst du ihnen Scheiben entgegen, die sie sonst nie hören würden.»

Die schlechten Momente hat Wandler, wenn er als DJ eine Horde von wohlstandsverwahrlosten Koksern unterhalten soll. «Wenn die Musik nur dazu da ist, beim Drogentrip nicht zu stören, und das Publikum die Party verlässt, wenn keiner mehr Pillen dabei hat, weiss ich, dass niemand im Saal meine Musik verstanden hat.» Stutz gesteht ein, dass Techno und Drogen kaum zu trennen sind. Er mutmasst sogar, dass zwischen der Musik und den Substanzen, die konsumiert werden, eine Wechselwirkung besteht. «Der schnelle, poppige Sound in den 1990ern passt so gut zu den damaligen Amphetaminen, wie die weicheren, housigen Sachen zum Ketamin der letzten Jahre.» Doch seine Musik funktioniert auch ohne Drogen. Das beweist Wandler, als er um vier Uhr im «Motel Campo» hinter den Plattentellern steht und Stück um Stück die Kontrolle über den Club übernimmt. Sein Set hört sich an wie ein Song, der sich bis zum Morgen hinzieht. Die Menge hört nicht auf zu tanzen und folgt, Takt um Takt, der Dramaturgie der Musik. Mit den Händen in der Luft feiern die Genfer den DJ.

Bis nach Berlin

Wandler entscheidet heute frei, welche Angebote er annimmt. Als er sich vor sieben Jahren als Musiker selbstständig machte, hatte er keine Ahnung, wohin ihn seine Karriere bringen würde. Das Ziel aber war klar: das Berliner «Berghain», Techno-Mutterschiff mit den angeblich härtesten Türstehern der Welt und besten DJs hinter den Plattentellern.

Doch waren es zunächst nicht die dröhnenden Berliner Partys, sondern die Finanzen, die ihm Kopfschmerzen bereiteten. Denn Stutz war damals schon Vater. Er liess sich seine Pensionskasse auszahlen und erstellte detaillierte Budgetpläne. Die Umstellung war gross. Die Mutter seines Sohnes erinnert sich: «Kennengelernt hab ich Michi im Anzug und mit einer goldenen Kreditkarte in der Hosentasche.» Sie schmunzelt. Nach dem Berufswechsel mussten sie das Geld ganz genau einteilen, erzählt sie weiter. Dennoch unterstützte sie ihn.

Doch nicht nur das Geld, auch die Arbeit unterstellte Stutz einem genauen Plan: Drei Tage die Woche war er im Studio, hörte, machte und mischte Musik. Einen Tag kümmerte er sich um Maurice, und die restlichen drei Tage war er als Wandler unterwegs.

Auftritte in Zürich, Lausanne, Mailand und Berlin machten aus der Leidenschaft einen Beruf. Stutz lebte nun in der verrückten Clubwelt, die ihn seit seiner Jugend anzog. Als Berufs-DJ merkte er aber auch, wie sehr sich die Szene über die Jahre professionalisiert hatte. Die Partyveranstalter betrieben mittlerweile etablierte Clubs, die auf volle Abende mit zahlenden Gästen angewiesen waren.

Nach sechs Jahren als DJ hat Wandler Nächte erlebt, in denen er das Gefühl hatte, vom Publikum ausgesaugt zu werden. «Wie Vampire mit gierigen Augen», beschreibt er sein Publikum in der Zeit, als er nur noch für seinen Auftritt in den Club kam und gleich danach verschwand. Die Abhängigkeit von seinen Gagen hatte ihm viel von seiner künstlerischen Freiheit geraubt. Der grosse Erfolg im Ausland blieb aus. Also beschloss Stutz vor einem Jahr, wieder eine Stelle als Projektmanager anzunehmen.

So etwas wie David Guetta

An diesem Morgen blitzen die Sonnenstrahlen durch die roten Glasscheiben, und der Raum dampft vom alkoholhaltigen Schweiss der Gäste. Die letzten Besucher verlassen den Club. Die einen tapsen müde, die andern tänzeln fröhlich und bedanken sich noch einmal beim DJ. Wandler und die restlichen DJs stehen an der Bar. Alle froh, erleichtert, dass die Gäste zufrieden waren, aufgedreht von der Musik, dem Rauch, der Stimmung der Nacht, die nachhallt. Wandler hüpft zigaretterauchend umher und kippt vor lauter Euphorie zwei Absinth.

Die Zeit als Berufsmusiker hat Stutz manchmal heftig durchgeschüttelt und über die Jahre geprägt. Er hat viel jugendliche Naivität verloren, seine Faszination für das Schräge, Bunte und seine Liebe zur Musik sind ihm geblieben. Auch das Berghain ist bis heute ein Traum geblieben. Wie es musikalisch für ihn weitergeht, weiss Wandler nicht. Im Moment legt er nur noch dort auf, wo es ihm wirklich gefällt und hat dafür mehr Zeit für sich und seinen Sohn, der mittlerweile auch schon weiss, was ein DJ ist: so etwas wie David Guetta.