Die Kunstecke sieht jedes Jahr anders aus. Dieses Jahr: Birdland. Michael Kuratli

«Sommer der Extreme»: Eine Woche Leben im Jetzt

Das grösste Open-Air der Schweiz gibt sich seine Extreme selbst. Und das diesjährige Wetter setzte dem ganzen die Krone auf. Welche Magie dabei entsteht und was das in einer Woche mit einem Menschen macht.

1. August 2013

Es sieht aus, als würde ich es nicht lange in der Romandie aushalten. Die Stimmung unserer Gruppe ist schon nach dem ersten Festivaltag am Tiefpunkt angelangt: Vier von fünf Zelten unter Wasser, der Pavillon vom Winde verweht, das Gepäck durchwühlt, beissende Wunden von Entenflöhen. Es ist Dienstagnacht um zwei Uhr. Hinter uns liegt ein sonnenverwöhnter Festivaltag, der diesen Ausgang als schlechten Witz erscheinen lässt.

Aber mit Glück im Unglück, das heisst trockenem, vollständigem Gepäck und einem der raren horizontalen Schlafplätze, stelle ich mich auf den gesammelten Frust meiner Freunde und das jähe Ende unseres Festivalbesuchs ein. Doch der apokalyptische Sturm, musikalisch untermalt von Neill Young & Crazy Horse‘ Gitarrengewummer, der Nyon mit Spitzen von 70km/h überraschte, ist nur eine der unzähligen Anekdoten geblieben, die das Paléo 2013 ausmachen. Wenige Stunden nach dem Gewitter scheint die Sonne wieder auf unsere feuchten Kleider und lässt den Kummer der vergangenen Nacht innert kürzester Zeit verdampfen. Und während sich die Tage darauf den Hitzerekord streitig machen, nisten wir uns in unserem rituellen Zyklus zwischen Zeltplatz, See (entenflohbedingt später dem Freibad) und dem Festivalgelände ein.

Extrem überfordernd

Das Paléo gibt sich seine Extremen selbst. Das grösste Open-Air Festival der Schweiz empfing auch in seiner 38. Ausgabe wieder knapp eine Viertelmillion Zuschauer, die während sechs Tagen zwischen internationalen Top Acts wie Blur, Santana und den Arctic Monkeys, Musik und Essen aus allen Weltgegenden, Kleinkünstlern und anderen Ablenkungen die Qual der Wahl hatten. Das Festival, an dem sich von Null bis Senior alle Altersklassen treffen, ist per Definition eine Reizüberflutung. Dieses Jahr entschieden ich und meine drei treuen Mitstreiterinnen, uns eine ganze Woche lang dieser Zelebration des Lebens hinzugeben. In wechselnden Konstellationen schwoll unsere Gruppe schliesslich zu bis zehn Leuten an. Wer sich nun wüste Alkohol- und Drogenexzesse vorstellt, liegt falsch. Vielleicht liegt es daran, dass wir schon am oberen Limit des Durchschnittsalters der Besucher von 28 lagen, vielleicht ist aber auch dieses Festival, das einem auf natürliche Weise den Horizont erweitert.

Extrem philosophisch

Man kann es am Paléo anstellen, wie man will, man verpasst immer etwas. Während Sophie Hunger in bester Laune als erster Main Act den Abend eröffnet, dröhnt im Zelt nebenan schon Schlagzeug und Synthesizer aus Dave Crowes taktgebendem Mund. Heymoonshaker, das Beatbox Blues Duo aus Neuseeland sehen es wahrscheinlich richtig, wenn sie sagen, das Zuschauer und Artisten je 50 Prozent eines Auftritts ausmachen. Das temporäre Kollektiv der Zuschauer feiert die versammelten Musikgötter und formiert sich zu immer neuer Ekstase. Und auf der Bühne schwingen sich die Bejubelten in philosophische Höhen. Etwa Nick Cave, der Prophet vergangener Drogenexzesse, wenn er dem nur wenige Kilometer entfernten CERN und uns den Higgs Boson Blues spielt. Fast etwas erstaunt bemerkt er, dass das Objekt seiner Zivilisationskritik „right down here“ ist, der grösste Teilchenbeschleuniger der Erde, in welchem das „Gottesteilchen“ entdeckt worden sein soll.

Auch Crystal Fighters, die baskischen Elektropoper, glauben nicht an die Zukunft. „The past is a deception, the future a delusion. Only the present is real!“ skandiert der Gitarrist von der Zeltbühne der „Détour“ herab. Wer wie ich Tags zuvor dem etwas seichter als üblichen Asaf Avidan zuhörte, war sich die Westentaschenphilosophie der Stars bereits gewohnt. Die Bühne sei ein Mikrokosmos und etwas von Energiefluss konnte man sich zusammenreimen. Dagegen bewies der Auftritt von Smashing Pumpkins wenige Stunden später, dass auch höhere Mächte gerne auf symbolische Weise ins Festivalgeschehen eingreifen. Als die Rocker um Billy Corgan mit dem Cover von David Bowies „Space Oddity“ mit dem Publikum Kontakt aufnehmen wollen, fallen sämtliche Lautsprecher aus. Mayor Tom driftet in stumme Sphären ab und meine Aufmerksamkeit dem nächsten kulinarischen Höhepunkt zu.

Extrem gerne wieder

Ein kühles Bier später erwischt man sich in der Kinderspielecke beim Jengaspiel und beim nächsten Augenzwinkern klingt der Abend mit einer zu Tränen rührend komischen Nacherzählung Kafkas Kurzgeschichten im Schutz unseres sanierten Pavillons aus. Zugegeben, dabei war etwas THC im Spiel. So gleichen sich die Tage in ihrer Vielfalt und eine Woche Festival verschmilzt zu einer Gesamterinnerung. Schliesslich scheint man die Ad-hoc Philosophen mit ihrem Gitarrendonner und ihren Medusenstimmen zu verstehen. Wie sie sich mit nicht enden wollenden Jamsessions ihren Mikrokosmos in der ewigen Gegenwart aufschlagen. Wie sie sich mit der Energie der euphorisierten Masse aufladen und als Perpetuum Mobile eine Woche über dem Lac Léman tausende Teilchen beschleunigen. Bis der temporäre Traum wieder für ein Jahr in Kisten gepackt wird und es heisst: Merci Paléo, t‘es extrêmement sympa! À la prochaine!