Nina und Balz beim Cindy's Diner. Nina Kunz

«Sommer der Extreme»: Mit 140 km/h durch die Nacht

Extrem müde, extrem spät, extrem weit weg. Drei Stunden auf der Autobahn nach einer durchgetanzten Nacht.

23. Juli 2013

Nichts ist wohltuender als nach einer verschwitzten Clubnacht die kühle Luft der frühen Morgenstunden einzuatmen. Meine Beine sind tanzmüde und ich sehne mich nach meinem Bett. Das Problem: Ich stehe nicht unter der Hardbrücke, sondern in Montreux. 210 km weit weg davon.

Balz und ich sitzen im Auto und schweigen uns an. Nur das Zirpen der Grillen in den Rebbergen stört die Stille. «Fühlst du dich fahrtüchtig?», frage ich. «Ja», ist seine knappe Antwort. Wenige Minuten zuvor hatten wir noch Steven Ellison, der unter dem Künstlernamen Flying Lotus auftritt, zugejubelt. Obwohl oder gerade weil er unglaublich high war, hat er grossartig gespielt. Für seine Spielereien mit Rap und elektronischer Musik hat sich die dreistündige Fahrt an den Genfersee gelohnt.

Das Festival an sich hat auf uns wie ein musikalisch-unterlegter Marketing-Gag gewirkt. Jeder Meter des Geländes war mit Werbung zugepflastert, so dass der spektakuläre Blick auf den Lac Leman erfrischender war, als das überteuerte Heineken. Doch mehr als ein Bier hat so wie so nicht drin gelegen. Denn die Abmachung ist: Er fährt und ich rede, um uns wachzuhalten. Es ist 2:30, meine Augenlieder sind schwer und wir haben uns noch keinen Meter in Richtung Nordschweiz bewegt.

Wie beim ersten Date

200 km bis Zürich: Der Anfang ist nicht geglückt. Zahlreiche Versuche, Montreux auf seinen kurvenreichen Strassen zu entkommen, scheitern, bis wir die richtige Autobahn-Auffahrt erwischen. Ich bin zwar müde, aber ich rede und frage und erzähle fleissig. «Wie lange fährst du schon Auto?», «Als Kind verbrachte ich meine Ferien oft in der Provence.», «Ich glaube, so zwei Zigaretten pro Tag wären ideal.» Das pausenlose Sprechen strengt an. «Ich fühle mich wie auf einem ersten Date.» Er nickt zustimmend. «Apropos, ich hatte mal eines im Starbucks.» Er schaut mich fragend an. «Mit fünfzehn.»

173 km bis Zürich: Es darf nicht still werden, sonst schlafen wir ein. Im Hintergrund hören wir eine Asian Dub Foundation CD. Balz merkt, dass mir langsam die Ideen ausgehen. «In der Nacht ist es viel wahrscheinlicher, Wild anzufahren. Was machst du, wenn dir ein Reh vor das Auto läuft?» Denn ich bin daran, Autofahren zu lernen. «Ich überfahre es, da ich so wie so nicht mehr bremsen kann und es dann weniger leidet?» «Falsch, du musst die Notbremse ziehen. Aber du wirst es sehr wahrscheinlich töten. Ein Reh wird püriert, wenn es unter das Auto kommt.» Ich nicke und schweife ab. «Und was machst du, wenn du ein Wildschwein anfährst?» «Essen?» «Nein, der SUVA anrufen, du hast einen Totalschaden. Die Viecher sind massiv.» Ich höre nicht mehr richtig zu. Meine Gedanken sind mit dem Bild des pürierten Rehs beschäftigt.

169 km bis Zürich: Es wird neblig. Das Auto vor uns sehen wir nur noch als Lichtschimmer in der weissen Wolke.

168 km bis Zürich: Wir sehen gar nichts mehr.

150 km bis Zürich: Strassenschilder, Gegenverkehr, Baustellen: Alles wieder sichtbar, wir sind dem Nebelmeer entkommen.

Sekundenschlaf

116 km bis Zürich: Unser Zustand ist kritisch. Meine Geschichten werden immer öfters von Sekundenschlaf unterbrochen und ich lalle beim Erzählen. Balz ist unangenehm still und seine Augen fixieren einen unsichtbaren Punkt auf der Autobahn. «Ich brauche eine Pause. Ich weiss nicht, ob ich es bis nach Zürich schaffe.» Ich bin der Idee, irgendwo auf einem Parkplatz zu schlafen überhaupt nicht abgeneigt.

92 km bis Zürich: Wir parkieren in Deitingen auf der Raststätte. Im Cindy’s Diner kaufen wir ein Päckchen Zigaretten und bestellen zwei Tassen Kaffee. Das Restaurant ist nach dem Vorbild eines amerikanischen Diners aus den Fünfzigern eingerichtet. Alte Coca Cola Werbeschilder spiegeln sich auf den Messing-Oberfläche des Tresens. Wir sind die einzigen Gäste im weitläufigen Lokal. Der Kaffee ist widerlich, nur mit viel Zucker und Rahm ist er trinkbar. Der Bildschirm mit Verkehrsinformationen hinter uns meldet Falschfahrer in beiden Richtungen.

91 km bis Zürich: Der Kaffee hat uns gestärkt. Der Sekundenschlaf ist vorbei und Balz hält das Auto wieder souverän in der Spur. Aber ich bin nicht mehr in der Lage, ganze Geschichten und Anekdoten zu erzählen. Stattdessen, lese ich alle Schilder vor. «Niederbipp, Ausfahrt in 1500 Metern.» Eine Minute später. «Oberbipp, Ausfahrt in 1000 Metern.»

Siegeszigarette zum Sonnenaufgang

63 km bis Zürich: «Ich fahre 140», bemerkt Balz monoton. «Mhhh», sage ich und zähle die weissen Streifen auf der Strasse.

29 km bis Zürich: Wir sind wieder im Sendegebiet des Hitradios 105. «Can you blow my whistle baby, whistle baby, let me know», grölen wir mit. Den Rap-Teil des Liedes können wir leider nicht. Lang lebe Flo Rida.

6 km bis Zürich: Oerlikon, Affoltern sind schon angeschrieben. Wie schön diese Namen klingen. Wir schaffen es.

Zürich in einer Garage im Kreis 6: Es ist 5:30, mein Körper ist todmüde, im Kopf bin ich hellwach. Adrenalin nehme ich an. Balz geht es gleich. Ins Bett? Nicht gleich, zuerst gibt es eine Siegeszigarette zum Sonnenaufgang.