Ein Reduit gegen den Schlamm: Festivalbesucherinnen schwimmen in der braunen Suppe.

«Sommer der Extreme»: Extrem gescheitert

Mein Versuch, das Open Air St. Gallen nüchtern zu verbringen, dauerte gerade mal zehn Minuten. Warum? Eine Suche nach möglichen Antworten.

4. Juli 2013

Das Vorhaben löste in meinem Umfeld Unglauben, ja gar Wut aus. Im Rahmen unserer Sommerserie «Sommer der Extreme» wollte ich etwas ganz Extremes ausprobieren: Das legendäre Open Air St. Gallen ohne Alkohol, Tabak und Drogen zu verbringen. Meine Nüchternheit dauerte gerade mal zehn Minuten. Das gab mir zu denken.

Schlamm auf den Brüsten

Auf der Brücke, die über die braune, reissende Sitter auf ein schlammiges und noch viel brauneres Gelände führt, stand hinter mir ein etwa fünfzigjähriger Mann mit Bierbauch und grau meliertem Ziegenbart. «Ich bin ein echtes Open-Air-Urgestein», sagte er zu seinem Begleiter, der seine schwarze Baseball-Mütze zurechtrückte. «Jedes Jahr hol ich mir als erstes ein Bier – und dänn gangi ad Settere abe go saichä!»

Ich bin zwar kein Open-Air-Urgestein mit bizarren WC-Ritualen. Doch das erste, was ich machen wollte, als ich das Gelände erreichte und im Schlamm fast versank, war, ein Bier zu trinken. Denn gleich mehrere Eindrücke stimmten mich noch trüber, als die unzähligen grauen Wolken über dem Sittertobel. Da war die Nässe, die zwecks mangelhafter Ausrüstung bereits einige Stellen meines Körpers benetzte. Da war natürlich auch die ausgelassene Meute, die den Exzess feierte, an dem ich nicht teilhaben soll. Grölend und lachend stolperte mir eine Gruppe junger Frauen entgegen, auf deren T-Shirts schlammige Handabdrücke auf der Höhe ihrer Brüste zierten. Verfolgt wurden sie von zwei Jungs mit Sonnenbrillen und schlammigen Händen.

Schnaps mit verfaulten Limonen

Der letzte Trübstein meiner Nüchternheit waren meine Freunde, die mich mit den schlimmsten Fluchworten eindeckten, als ich auf dem Zeltplatz ankam und ein angebotenes Bier ablehnte. Ich hätte hier nichts zu suchen, wenn ich nichts trinken wolle. Aber das war nicht das Problem. Ich wollte ja trinken.

Und das wurde mir zum Verhängnis. In einem halb demolierten Campingstuhl von Inter-Discount sass ich nun: In der rechten Hand ein Bier, in der linken eine klebrige PET-Flasche, in der sich in scharfem Alkohol schwimmend ein vergammelter Limonen-Schnitz befand, während sich am Boden der Flasche eine Unmenge von Rohrzucker sammelte. Die Runde befand sich bereits in dionysischem Zustand und zupfte an den Reben, die den Himmel des Tartarus säumten. Bei mir machte sich aber nur schlechtes Gewissen breit. Mein schnelles Scheitern und der Schock über meine nicht vorhandene Resistenzfähigkeit gaben mir zu denken. Doch die beiden Gesöffe taten das Ihrige, um meine Sorgen zu vergessen und mich in die bedingungslos betrunkene Masse einzugliedern. Das Diktat des Rausches erlaubt keine Sonderlinge – schon gar keine mit schwachem Willen.

Wurstkneten

Und so bewegte ich mich auf dem schlammigen Boden, der meine Füsse bei jedem Schritt zu sich hinunterzog. Aber ich wollte nicht eingesogen werden und wehrte mich gegen die feucht-kalte Umklammerung der braunen Masse. Wurst um Wurst der lehmigen Erde knetete ich mit meinen zu Klumpen gewordenen Wanderschuhen zurück in den zähen Grund. Durch die Schlucke des scharfen Branntweins merkte ich aber bald nichts mehr davon und sank ab in die euphorisierte Menge, mit der ich langsam verschmolz.

Als der Regen am nächsten Morgen auf das Dach des billigen Pavillons prasselte, unter dem ich mich befand, während ich zum Frühstück ein trockenes Gipfeli vom Migros-Stand mit dem brühheissen Jura-Kaffee versuchte herunter zu spülen, erinnerte ich mich an meinen Vorsatz.

Der harzige Verzehr meines pampigen Gipfelis entsann mich der Absurdität meines Vorhabens. Und ich erinnerte mich an die Empörung meiner Freunde, die keinen rauschlosen Betrachter ihres Exzesses duldeten. Genauso wenig ertrug ich nüchtern den Schlamm, den Geruch nach Fäulnis und diese gnadenlose Ausgelassenheit. Sei es das Wetter, die Leute oder mein mangelnder Wille: Nüchtern sein am Open Air St. Gallen ist eine extrem schlechte Idee.