Eva inmitten von ICF-Mitgliedern. Anina Albonico

Ein göttlicher Sonntagabend

Intelligent fliegende Gänse, formbedürftiges Rohmaterial und haufenweise Liebeserklärungen. Ein Besuch bei ICF Zürich.

23. März 2011

Sonntagabend. Kalte Luft liegt über Zürich. Ich erreiche den Bahnhof Hardbrücke zu christlicher Stunde. Der Ausgangs­punkt so mancher durchzechten Nacht präsentiert sich in gewohnter Wochenend­gestalt: Roher Beton, Taxis und vergessene Bierdosen säumen den Vorplatz. Nur etwas fällt auf: Zielstrebig bewegen sich vorwiegend Jugendliche in die gleiche Richtung. Kurz darauf bestätigt sich dieser Eindruck. Wir begegnen uns wieder in der Celebration Hall von ICF Zürich.

Die Gemeinde der International Christian Fellowship hat sich an bestens er­schlossener Lage in einer vormaligen Fabrikhalle eingenistet. Seit 2003 gibt es hier auf 3500 Quadratmetern für 35’000 Franken Monatsmiete wöchentlich Hoffnung, Erlösung und einfache Antworten auf grosse Fragen.

Aussen modern – innen erzchristlich

«Welcome home» – vorbei am zweiten einladend lächelnden Be­grüssungsduo suche ich in der Eingangshalle umgehend den Schutz des nahe­gelegenen Tresens. Hier gelingt die Kaschierung meines desorientierten Neulings-Daseins am ehesten. Zwischen Tischfussball, Fingerfood, Ikea-Möbeln und einem CD- und Bücherkiosk begrüssen sich zahlreiche äusserst modisch gekleidete Besucher mit strahlenden Gesichtern. Da kommt eine wohl direkt von der Piste: In Neonfarben gehüllt mit dem Snowboard unter dem Arm, und dort betritt ein Rekrut im militärischen Tarnanzug die Halle. Es riecht nach ofenfrischer Pizza. Oberhalb der Tore zum grossen Kernstück der frei­kirchlichen Räumlichkeiten kündigt der Countdown bereits den unmittelbar bevor­stehenden Grund meines Besuchs an: It’s celebration time!

Gegen 3000 Gläubige pilgern jeden Sonntag zu «senior pastor» Leo Bigger an die Celebration, um zusammen zu «worshippen», wie es im englisch ange­hauchten ICF-Jargon heisst. Hier singen sie im mitreissenden Kollektiv christlich-poppige Lieder, lauschen biblischen Geschichten und beten Gott inständig an.

Ein emotionaler Höhenflug

Hinter mir auf der Tribüne sitzt ein junges Mädchen. Es trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift ‹Daddy’s Girl›. Gebannt umklammert es die Hand des Freundes. Da hält die beiden plötzlich nichts mehr in ihren Sitzen. Gemeinsam saugen sie die Darbietung der bunt gemischten Sänger auf der Bühne ein. Ihre Lippen bewegen sich zu den Songtexten, die in deutscher und englischer Übersezung simultan auf drei grosse Leinwände projiziert werden: «...Jesus it’s you – Jesus your love – there is no one like you.» Gelegentlich strecken sie gar ihre Arme gegen Hallendach und Himmel: «...nüt wo mich no trennt – vo dine sichere Händ – Jesus ich liebe dich so sehr!»

Gott kommt vor den Finanzen

Der gestylte Vorbote des «senior pastor» heizt der Gemeinde richtig ein. Er bekundet ein weiteres Mal seine tiefe Freude und heisst alle, insbesondere uns Neulinge, nochmals «mega herzlich willkommen». Schon gehts «down to business». «Wer Prioritäten setzt im Leben und die Relativität der Bedeutung von Geld erkennt, ist auf dem richtigen Weg»: Begleitet von berührender Singer-Songwriter-Musik wandern herzförmige Kollektentöpfe durch die Reihen. Die mittlerweile arbeitslosen Türsteher sorgen emsig für eine reibungslose Weitergabe der Gefässe an Zwischengängen und Reihenenden. Ich bereue meine Platzwahl direkt neben der Treppe. Geld rein für die Unauffälligkeit? Nein! Schliesslich geschieht hier alles auf freiwilliger Basis.

Rund zehn Prozent der jährlichen Einnahmen von ICF Schweiz, die sich auf über vier Millionen Franken belaufen, entspringen den Kollekten. Der Rest wird durch den «Zehnten», eine freiwillige Abgabe der Anhänger, gedeckt. Löhne und Mieten beanspruchen zwei Drittel des Budgets, was übrig bleibt ist fürs «Kirchenleben».

Der Star des Abends

Er ist 42 Jahre alt, scheint aber durchtränkt mit ewiger Jugend. Sein Markenzeichen ist die blondierte Gelfrisur. In Sneakers und gebleichten Jeans zelebriert er seine bedingungslose Liebe zu Gott. Das ist «senior pastor» Leo Bigger. Mit rhe­torischem Geschick erzählt er Geschichten, verwendet eingängige Me­taphern. Heute spricht er von Gänsen als Sinnbild für Zusammenhalt, Machbarkeit und Sehnsucht. Diese Tiere seien intelligent und sozial. Den Beweis liefere ihre V-förmige Anordnung beim Fliegen. Die schwächeren Tiere reihen sich in zwei Achsen hinter der Leitgans ein, um den Windschatten optimal zu nutzen. Doch auch sie leisten ihren Beitrag zum effizienten Vorankommen der Gruppe. Ihr Kreischen feuere die Spitze an, gebe ihr Antrieb und Durchhaltevermögen.

Immer wieder veranschaulicht Leo mit Anekdoten aus seinem Leben die biblische Wahrheit und die Existenz Gottes. Die Predigt handelt von Freund­schaften. In gängigem Deutsch auch Beziehungen genannt. Das Geheimnis einer glücklichen Beziehung? Offensichtlich beschäftigt sich die Gemeinde mit mir bestens vertrauten Fragen. Suche nicht nach deinem Glück, sondern suche eine Person, die du mit deiner Vollkommenheit glücklich machen kannst. Zur Illustration spricht er von seiner Frau: «formbedürftiges Rohmaterial» sei sie damals, vor 20 Jahren, gewesen. Für wie viel Rohmaterial fühlt sich ICF wohl zuständig? Nach 90 Minuten seelischer Streicheleinheiten und multimedialer Inszenierung steht das Abendmahl bereit. Besonders treue Seelen können im kleinen Kreis weiterbeten. Am Ende gehe ich noch kurz das Geschenk für die Neuankömmlinge abholen: Schokolade und Prospekte voller lachender Gesichter. Und schon treibe ich mit dem Strom hinaus. Ich stehe wieder zwischen rohem Beton, Taxis und vergessenen Bierdosen und krieg die Gänse aus Biggers Predigt nicht aus dem Kopf: Könnte man das Fliegen nicht den Gänsen überlassen? ◊