Sorgt für schlechte Luft: Stahlwerk in Magnitogorsk. Remo Obrist

Aus Leidenschaft bis nach Magnitogorsk

Qualmende Schlote unter einer Eisschicht statt Sandstrand unter dem Sternenhimmel. Wer als Fan seinem Sportverein nachreist, kann einiges erleben.

14. Februar 2009

Michael Baumann* ist 20 Jahre alt, Student und leidenschaftlicher Fan des Zürcher Schlittschuh Clubs (ZSC). Diese Leidenschaft veranlasste ihn dazu, in der laufenden Saison nach Salzburg zu einem Vorbereitungsturnier und im Rahmen der Champions Hockey League nach Linköping, Prag und Helsinki zu reisen. Doch die russische Stadt Magnitogorsk, die nördlich von Kasachstan an der Grenze zu Asien liegt, toppte jede Entfernung. «Die Spiele der Champions Leage waren alle unter der Woche und ich achtete beim Planen der Reisen darauf, dass ich an der Uni nicht zu viel verpasse.» Michael war maximal drei Tage unterwegs und sah – abgesehen von den wichtigsten Sehenswürdigkeiten – von der Stadt nur das Nachtleben. Wenn er seinen Mitstudierenden und Freunden von den Reisen erzählt, stösst er auf viel Unverständnis. Kaum einer kann nachvollziehen, wie er sich so in den Dienst einer Eishockeymannschaft stellen kann. Doch wenn Michael über seine Leidenschaft spricht, klingt er wie ein frisch verliebter Teenager: «Ich würde es nicht als Sucht, sondern als ausgeprägte Leidenschaft bezeichnen. Ich tue das aus einer grossen Liebe zum Verein und zur Stadt Zürich. Ich fühle mich als Teil des Vereins und möchte ihn überall unterstützen.» Für viele mag das vollkommen unverständlich und naiv sein, doch wer von «Liebe» spricht, der scheint es ernst zu meinen.

Fanszene – eine Jugendkultur

Michael Baumann ist bei Weitem kein Einzelfall. Diese Passion teilen zahlreiche andere Fans mit ihm. In Linköping, einer kleinen Stadt westlich von Stockholm, bejubelten gut 50 Fans den unerwarteten Erfolg der Zürcher. In Prag waren es dann schon 200 und beim Spiel gegen die Blues aus Espoo, einer Vorstadt von Helsinki, sprachen finnische Medien gar von einer «Invasion der Zürcher» – über 500 Fans waren aus der Limmatstadt angereist, um den Finaleinzug zu feiern. Das weitverbreitete Bild des primitiven Arbeitslosen, der sich bei Eishockeyspielen betrinkt und die Kehle aus dem Leib schreit, ist nicht zutreffend. Der überwiegende Anteil der aktiven Fanszene ist relativ jung. Der Fanbeauftragte des ZSC, André Bernhardsgrütter, sagt zum Alter der Fans bei diesen Auswärtsreisen: «Der Anteil der unter 25-Jährigen betrug in den drei ersten Spielen im mindestens zwei Drittel aller Fans. In Magnitogorsk waren die Jugendlichen dann aber doch klar die Minderheit, 1700 Franken für die ganze Reise war den meisten zu viel.» Michael Baumann war trotzdem dabei und nahm gar einen Kredit bei einem Freund auf. Er erinnert sich: «Natürlich war das eine Reise, die über meinem Budget liegt, doch andere geben 1700 Franken für zehn Tage in Ibiza aus. Magnitogorsk ist eine triste Arbeiterstadt, eigentlich keine Reise wert, doch die Erlebnisse, die ich da machen durfte, werden unvergesslich bleiben. Gerne erinnere ich mich an das Spiel und die Stunden, in denen ich den 2:2-Erfolg mit den Spielern feierte.»

Beruf und Ausbildung gehen vor

Die Fans sind sich einig: Beruf oder Ausbildung gehen vor. Manchmal siegt dann aber doch die Leidenschaft über die Vernunft. So reiste Andreas Winkler*, 22 und Student an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, mitten in den Prüfungsvorbereitungen nach Helsinki zum Halbfinalspiel gegen die Espoo Blues. «Der ZSC nimmt in meinem Leben einen sehr wichtigen Platz ein. Ich unterstütze ihn an fast jedem Spiel in der Saison. In Finnland waren wir im Begriff, mit dem Einzug ins Finale der Champions League Geschichte zu schreiben. Diesen historischen Moment wollte ich auf keinen Fall verpassen.»

Über die besuchten Städte sprechen die Fans eher wenig. Während es in Helsinki und Prag doch einiges zu sehen gab, konzentrierten sie sich in Linköping vor allem auf das Spiel. Und Obwohl Magnitogorsk von den Bewohnern liebevoll Magnitka, Magnetchen, genannt wird, war es nicht das qualmende Stahlwerk, das rund siebzig Zürcher anzog.

Der (Un)Sinn dieser Reisen

Für sechzig Minuten Eishockey fast zehn Stunden im Flugzeug zu sitzen, klingt vollkommen verrückt. Über den Sinn und Unsinn von solchen Kurztrips lässt sich streiten, genauso wie man über zwei Wochen All-Inclusive-Ferien am Strand streiten kann. Doch beim Reisen geht es in erster Linie um unvergessliche Momente und Erfahrungen. Entscheidend ist, was man dabei erlebt. Für viele bedeutet eine Sportmannschaft mehr als nur Eishockey, sie reisen zu jedem Spiel – das sind in der Schweiz über 50 Spiele – und sehen sich als Teil des Vereins. Die Bedeutung der Fans wird von den Spielern auch immer wieder betont. Der Captain des ZSC, Mathias Seger, drückt das so aus: «Für mich stehen die Fans an der Spitze des Vereins, danach erst folgen die Spieler und die ganze Organisation. Wenn die Fans uns lautstark unterstützen, dann wirkt sich das wie ein Dominoeffekt auf die Mannschaft und deren Erfolg aus.» Dessen sind sich auch die Fans bewusst. Fans sehen sich als Teil des Vereins. Während Spieler im modernen Sport kommen und gehen, bleiben sie dem Verein erhalten, deswegen folgen sie ihrem Verein auch überall hin. Die lange Reise durch ganz Europa – immer auf den Fersen des ZSC – endete für Michael Baumann mit einem Happy End. Mit über 6000 anderen Fans trug er sein Team zum grössten Erfolg der Clubgeschichte und sagte am Ende des Spiels mit heiserer Stimme: «Ich bin unglaublich glücklich, dass ich das miterleben durfte. Diese Erlebnisse und Gefühle sind für mich unbezahlbar.»

*Namen der Redaktion bekannt.