Das neue Team des Schauspielhauses: Leonie Böhm, Wu Tsang, Benjamin von Blomberg, Nicolas Stemann, Alexander Giesche, Christopher Rüping, Yana Ross; vorne: Trajal Harrell, Suna Gürler. © Gina Folly

Das neue Schauspielhaus: Verjüngungskur mit Biss

Ab der Spielsaison 2019/2020 übernimmt das Duo Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann die Leitung des Schauspielhauses Zürich. Besonders junge Theatergänger*innen können sich über die neue Intendanz freuen.

11. September 2019

Vor der St-Jakobs-Kirche am Stauffacher steht ein weisser Würfel etwas erhöht auf einem Podest. Betritt man den Würfel, ist man sofort von einem dichten Nebel umhüllt und nichts ist mehr erkennbar – ausser Farben, die je nach Standort der Betrachtenden wechseln. Der Kubus ist eine Installation des Künstlers Alexander Giesche. Er ist einer von sieben Hausregisseur*innen, die von den neuen Intendanten des Schauspielhauses, Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann, engagiert wurden. «Ich will mit Leuten ins Gespräch kommen», sagt Giesche zu seiner Installation, die schon im Hardaupark stand und am Schiffbauplatz enden wird.

Das scheint der O-Ton der neuen Besetzung des Schauspielhauses zu sein. Von Blomberg betont, dass alle Kunstschaffenden während der Dauer der Intendanz in Zürich leben. Damit soll der Dialog mit der Stadt ermöglicht werden. Was nach einer eingespielten Truppe klingt, muss sich aber erst finden. Stemann und von Blomberg mögen zwar ein vertrautes Duo sein. «Die gemeinsame Philosophie innerhalb der Hausregisseur*innenschaft, des Ensembles und im Haus muss erst noch Praxis werden. Damit fangen wir jetzt gerade erst an», sagt von Blomberg.

Flachere Hierarchien

Erstmals in der Geschichte des Schauspielhauses gibt es eine Co-Intendanz. Zu zweit mache das mehr Spass und man könne sich in schönen und schlechten Momenten besser beistehen, sagt von Blomberg. «Dann ist da die Frage, wie man mit Macht umgeht und zu kollektiveren Organisationsformen kommt.» Die neue Intendanz – ein Kollektiv? «Kollektiv klingt immer so, als kenne man sich schon ewig und hätte dann irgendwann entschlossen, zusammen Verantwortung zu übernehmen», entgegnet von Blomberg. Das sei bei ihrem Team mit den restlichen sieben Hausregisseur*innen nicht der Fall. Dies seien extrem starke Einzelcharakteren mit klaren Visionen, die wollen, dass ihre Arbeit gut werde. «Was uns aber alle verbindet, ist die Hoffnung darauf, dass wir voneinander profitieren, und dass das Gesamte mehr sein kann als die Einzelteile.»

Dabei sei dieser Gedanke im Theater absolut nicht neu. «Selbst wenn es immer diese Personen gibt, die dann vorne stehen, wie etwa eine Regisseurin oder ein Schauspieler, war das Theater schon immer eine Kunst, die von einer Gruppe aus denkt», sagt von Blomberg. Die oder der Einzelne sei im Theater gar nichts. Doch flachere Hierarchien hin oder her, schlussendlich stehen auch bei dieser Truppe zwei weisse Männer an der Spitze. Damit bleibt Barbara Frey vorerst die einzige Frau in einer langen Liste von männlichen Direktoren des Schauspielhauses. Der Problematik ist sich von Blomberg bewusst. «Ich glaube, dass man am Ende des Tages jede Person daran messen muss, wie sie handelt», so von Blomberg. Und wie diese Person den Raum gestalte, den sie oder er habe. Dafür seien die Hausregisseur*innen nicht nur männlich und weiss. «Wir wollten einen Ort schaffen, an dem sehr unterschiedliche Menschen die Möglichkeit haben, für sich zu sprechen und sich zu repräsentieren.»

Fokus Jugendförderung

Auch junge Menschen sollen im neuen Schauspielhaus mehr Platz haben. Steman und von Blomberg haben mit der Abschaffung des jungen Schauspielhauses bereits für Schlagzeilen gesorgt. «Dass es nicht zwei Institutionen innerhalb eines Ortes gibt, war uns ein riesiges Anliegen», erklärt von Blomberg diesen Schritt. Meist sei dies ein Zeichen dafür, dass es zwar ein Angebot für Junge gäbe, diese aber nicht die gleichen Kapazitäten und Aufmerksamkeit kriegten. Blomberg findet, «wenn wir integrativ denken, können wir nicht da aufhören.» Zudem stelle sich die Frage, wie man Junge fürs Theater interessieren könne.

Die These der neuen Intendanz dazu lautet: Man muss die Jungen selbst zu Akteur*innen machen. Deswegen gibt es neu vier Jugendclubs für 13- bis 23-Jährige. Wöchentlich wird über die ganze Spielzeit hinweg ein Theaterabend erarbeitet. Im Mai und Juni 2020 wird dann Premiere gefeiert: alle vier Clubs spielen drei öffentliche Vorstellungen in der Schiffbau-Matchbox, respektive in der Kammer des Pfauens, wie einer Medienmitteilung zu entnehmen ist. Zentral ist hier Hausregiesseurin Suna Gürler. Sie wird die Clubs mit einem Theaterpädagogik-Team leiten. «Suna hat einen unfassbar aufmerksamen und kenntnisreichen Blick dafür, was junge Menschen brauchen, damit Theater aufregend ist», lobt von Blomberg.

Eine Hälfte der neuen Intendanz: Benjamin von Blomberg. © Gina Folly

Eine Hälfte der neuen Intendanz: Benjamin von Blomberg. (Foto: © Gina Folly)

Theaterjahr und ZHdK-Labor

Doch die Jugendförderung beschränkt sich nicht bloss auf die Jugendclubs. «Wir wollen, dass Junge auf allen Ebenen des Theatermachens integriert werden können», sagt von Blomberg. «Deswegen haben wir ein bezahltes Theaterjahr für fünf junge Menschen eingerichtet.» Diese fünf sollen Teil der verschiedenen Abteilungen werden können. Für eine erfolgreiche Bewerbung brauche man nicht Germanistik studiert zu haben, beruhigt von Blomberg. «Das Theaterjahr richtet sich an all jene, die nicht so genau wissen, was ihr nächster Schritt ist.»

Zudem will das Schauspielhaus mit der Zürcher Hochschule der Künste eine Art Labor einrichten. Ein*e der Künstler*innen wird da eine Residenz haben, die sich gegenüber der ZHdK öffnen soll. «Menschen, die teilhaben und mitforschen wollen, sollen dies auch können.» Aber auch für diejenigen, die nicht aktiv am Theatergeschehen teilnehmen wollen, gibt es Angebote: Unter Dreissigjährige können für 111 Franken zu sämtlichen Aufführungen, Konzerten, Parties und Sonderveranstaltungen. Für Studis und Kulturlegi-Besitzer*innen gilt 50% Rabatt auf alle Abos im Vorverkauf. An der Abendkasse kosten alle Plätze mit Legi weiterhin nur 18 Franken. Und während der ersten Spielzeit zahlen Besucher*innen bei ausgewählten Vorstellungen einmal im Monat was sie wollen.

«Wir nehmen niemandem etwas weg»

Doch was ist mit den eingesessenen Theatergänger*innen? «Man muss aufpassen, dass man das Publikum nicht zu schematisch anhand von Grösse und Alter spaltet», sagt von Blomberg. «Ich habe schon unglaublich konservative junge und verdammt nochmal aufgeschlossene und ereignishungrige ältere Zuschauer*innen erlebt.» Er gesteht aber ein, dass die blosse Zusammensetzung des Teams Veränderung mit sich bringen wird - jüngere Kunstschaffende haben nun Mal eine jüngere Ansprache. Was aber nicht heisst, dass gleich alles Bewährte über den Haufen geworfen wird. «Viele der Traditionen setzen wir fort» sagt von Blomberg. Christoph Marthaler oder Milo Rau werden beispielsweise weiter inszenieren. Auch einige Ensemblemitglieder sind geblieben, so etwa Lena Schwarz, Henni Jörissen oder Michael Neuenschwander.

Eine weitere Veränderung, auf die sich Theatergänger*innen künftig gefasst machen müssen, ist die Mehrsprachigkeit vieler Stücke. Nicht nur ist das Ensemble vielsprachiger geworden, alle Stücke werden englische Übertitel bekommen. «Es gibt in Zürich viele Menschen, die im Alltäglichen nicht Deutsch sprechen», erklärt von Blomberg den Entscheid. «Und wir wollen für diese kosmopolitische Metropole, die Zürich ist, Theater machen.» Von Blomberg kann verstehen, dass dies als eine Bedrohung empfunden werden könnte. «Dabei nehmen wir niemandem etwas weg.» Vielmehr sei dies eine Geste der Öffnung.

«Wir sind auf jeden Fall das Establishment.»

Eine Institution, die keine sein will

Das neue Schauspielhaus soll also jung, offen und anti-elitär werden. Lässt sich dies überhaupt mit der Natur des Schauspielhauses, einer der grossen Kulturinstitutionen, vereinbaren? Oder droht dem Team von Anfang an eine Verinstitutionalisierung? «Wir sind auf jeden Fall das Establishment», so von Blomberg. Denn die Art und Weise, wie sie Kunst produzieren können, suche ihresgleichen. «Wir haben die Probebühnen, die finanziellen Mittel und die technischen Mannschaften.» Doch von Blomberg hat keine Angst davor, spiessig zu werden. «Wenn das, was wir machen, zum allgemeinen Geschmack wird und man dies wiederum Establishment nennt... Dann weiss ich nicht, ob ich das so schlimm finde.» Vorausgesetzt, dass sich durch die Kunst immer noch etwas ereignen könne.

Kunst werde immer dann uninteressant, wenn sich in ihr nichts mehr ereigne. Wenn die Ästhetik so bekannt sei, dass kein Inhalt mehr darüber transportiert werde. «So lange die lebendige Kommunikation stattfindet, ist mir egal, wie man das nennt: Ob Punk oder Klassik, Establishment oder Avant-Garde», findet von Blomberg. Erst müssten sie sich als Team finden. «Ich freue mich, wenn man sich offen auf uns einlässt und ein bisschen Zeit gibt», findet von Blomberg. Und was, wenn die Produktionen des neuen Schauspielhaus in drei Jahren als spiessiges Establishment gelten? «Dann muss ich sagen, wow, was für eine Erfolgsgeschichte», lacht von Blomberg. Doch so weit seien sie noch nicht.

Politisches Theater

Als Teil des Vorgeschmacks auf das Eröffnungsfestival war auch eine Kompost-Performance zu sehen. «Ich will mehr recyclen! Und Fahrrad fahren!», ruft Schauspieler Maximilian Reichert, während er im Komposthaufen stampft. Was zynisch klingt, sei durchaus ernst gemeint. «Ich glaube auf jeden Fall, dass Kunst politisch ist», sagt von Blomberg. Die antifaschistische Tradition des Schauspielhauses mache die Institution so besonders und suche ihresgleichen. Heutzutage seien andere Themen massgeblich. «Da ist einerseits das Thema Umwelt, andererseits aufkommende Nationalismen oder Wohlstand, der ungleich verteilt ist.» Dies seien alles politische Themen, die sicher auch in den Stücken verhandelt werden.

Eine der ersten Premieren ist Steinbecks «Früchte des Zorns», inszeniert von Christopher Rüping. «Das ist eine Geschichte, die man heute zigfach in der Welt erlebt», sagt von Blomberg. Aber auch zwischenmenschliches werde Thema sein. Ebenfalls von Rüping wird «Miranda Julys Der erste fiese Typ» aufgeführt. «Das ist ein dezidiert feministisches Stück.»

«Mutig bleiben»

Doch was, wenn die neuen Ideen beim Zürcher Publikum nicht ankommen und die Stühle leer bleiben? «Es wird Zeit brauchen», sagt von Blomberg. «Deswegendürfen wir unsere Arbeit nicht nur daran messen, ob die Vorstellungen gleich voll oder die Kritiken super sind.» Von Blomberg wünscht sich, ruhig Blut zu bewahren und Zutrauen in Veränderung zu haben. «Ich finde, dass der Stadt sehr gut steht, so mutig gegenüber Experimenten hinsichtlich des Theaters zu sein.» Damit spricht von Blomberg auch die Neubesetzungen am Theater Neumarkt und der Gessnerallee an. Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert haben die Direktion des Neumarkts übernommen. Im Theaterhaus Gessnerallee haben ab 2020 Michelle Akanji, Rabea Grand und Juliane Hahn das sagen. Diese drei Theaterhäuser würden sich alle etwas getrauen. Deswegen lautet von Blombergs Mantra «Mutig bleiben».

Ob Nicolas Steman und Benjamin von Blomberg und ihr Regieteam alles umsetzen können, was sie sich vorgenommen haben, weiss niemand. Sie scheinen aber gut gegen Spiessertum und Festgefahrenes gewappnet zu sein. Eines steht fest: Durch Zürichs Theaterlandschaft weht ein frischer Wind. Es ist zu wünschen, dass dieser der Limmatstadt neuen Schwung verleiht – die Zeiten, als die grossen kulturellen Institutionen nur für bestimmte Teile der Bevölkerung da waren, sind vorbei.

Eröffnungsfestival: Mittwoch, 11. bis Sonntag, 15. September. Das Programm ist hier zu finden.