Gehts um mehr als nur um Bier. Ruben Fructuoso

«Vielleicht muss man etwas masochistisch sein»

Trinkfreudig, konservativ und frauenfeindlich. Die Liste von Klischees über Studentenverbindungen ist lang. Ein Augenschein in Zürich.

2. März 2010

Zwei Gläser Rotwein, ein Glas Saurer Most, nochmals zwei Gläser Rotwein, einen Jägermeister und einen Schnupf gleichzeitig, wieder zwei Gläser Rotwein, eine Stange, das letzte Glas Rotwein – und das alles «auf ex» in 17 Minuten. Die Flucht auf die Toilette. Mit dem Siebenfachen* trinkt sich ein Turicer aus dem Fuxenstall*, rein in den Burschensalon*. So erlebe ich das am Stamm* bei der Turicia. Bei meinem ersten Besuch bei einer Studentenverbindung wurde mir als ZS-Investigativreporterin unzureichende Recherche und Vorurteilbehaftetheit vorgeworfen. Nun hatte ich mich erneut auf die Entdeckungsreise ins Verbindungsland gemacht – diesmal, um die Klischees ein für alle mal zu widerlegen.

Erstes Klischee: Alkoholiker

In vielen Verbindungen herrscht Trinkzwang. Getrunken wird nach dem Bier-Komment*, der das Verhalten der Verbindungsmitglieder am Stamm oder an der Kneipe* festhält. Wer dagegen verstösst, wird bestraft – mit Bier. Oder «kann bestraft werden», wie ein Verbindungsmitglied betont. Der Komment gilt am wöchentlichen Stamm, je nach Verbindung wird er strikter oder nachlässiger befolgt. «Während dem offiziellen Teil der Kneipe darf bei uns niemand den Raum verlassen, nicht einmal um aufs Klo zu gehen. Wer es nicht mehr aushält und schnell rausschleicht, wird mit einer Stange bestraft», erklärt Dominik Letsch, Aktivenpräsident der Carolingia Turicensis. «Manchmal ist es schon hart, weil alle die ganze Zeit am Trinken sind», gesteht Letsch. Warum tut man sich das an? «Vielleicht muss man etwas masochistisch veranlagt sein», sagt er lachend und winkt ab. Wer krank ist, Medikamente nehmen muss oder vor einer Prüfung steht, darf sich bierkrank melden. Laut Couleurstudent Letsch ist ein bierkrank gemeldeter Aktiver* «aber schon ein minderwertiges Mitglied, er sollte den Mund nicht zu weit auf­reissen.» Wer nicht bierkrank gemeldet sei, müsse trinken und immer ein volles Glas vor sich stehen haben. Der Status eines Bierkranken variiert von Verbindung zu Verbindung. In der Sängerschaft der Rodensteiner zu Zürich sind alle Anwesenden gleichwertig – bierkrank hin oder her. Allerdings darf ein Bierkranker laut Rodensteiner Inaktivbursch* Jérôme Müggler auf keine Bierspiele eingehen. Sobald er dies macht, sei der bierkranke Status aufgehoben und dann müsse er mittrinken. Dass viel getrunken werde, lässt sich auch laut Christoph Mörgeli, Altherr* der Singstudenten, nicht bestreiten. «Wenn man auf die Kneipe geht, gehört richtiger Bierkonsum dazu. Die Jungen trinken vor und man ist gehalten nachzutrinken», erzählt Mörgeli, der aus Zeitgründen nur noch selten an Anlässen der Singstudenten teilnimmt. Ausserdem ertrage er dieses Quantum an Bier nicht mehr, wenn er am nächsten Morgen fit sein müsse.

Zweites Klischee: frauenfeindlich

Nicht nur der ausschweifende Alkoholkonsum sorgt bei Nicht-Verbindungsstudenten für verständnisloses Kopfschütteln. Auch die Tatsache, dass die meisten Verbindungen keine Frauen aufnehmen, stösst sauer auf. «Wer sagt, dass eine geschlechterspezifische Durchmischung in jedem Bereich des Lebens Sinn macht?», rechtfertigt sich David Plaz, Aktivenpräsident der Helvetia. Auch Couleurstudent Müggler von den Rodensteinern und Carolingia-Präsident Letsch schätzen die Männerrunden. «Sobald eine Frau anwesend ist, verhalten sich alle Männer anders, da kannst du dir noch so Mühe geben», meint Letsch dazu. Die Aktiven der Turicia sehen die Einbindung der Frauen in das Verbindungsleben lockerer. Obwohl sie nur Männer aufnehmen, sind die wöchentlichen Stämme auch für die Kollegin, Frau oder Freundin offen. «Klar, wenn jemand jede Woche mit der Freundin auftaucht, sagt man dem schon, kannst auch mal alleine kommen», erzählt ein Turicer am Stamm.

Drittes Klischee: rechtsextrem

Ausgehend vom konservativen Frauenbild lassen sich Rückschlüsse auf eine politische Rechtslastigkeit ziehen. Im Extremfall werfen Aussenstehende den Studentenverbindungen auch eine zum Rechtsradikalismus neigende Gesinnung vor. Ein Blick in die Verbindungslandschaft unserer deutschsprachigen Nachbarn zeigt, dass dieses Klischee nicht aus dem Himmel gegriffen ist. In Österreich ist die Burschenschaft Olympia bekannt dafür, Holocaust-Leugner und NPD-Funktionäre zu Vorträgen einzuladen. Von Sozialwissenschaftlern wird sie als rechtsextrem eingestuft. Auch in Deutschland standen Verbindungen wegen ihrer Nähe zu politisch rechten Organisationen in der Kritik. Anders in der Schweiz, hier gehen die Verbindungen auf Distanz zu derartigen Gesinnungen. «In unserer Verbindung gibt es Juden, Muslime, homosexuelle SVP-ler, Kommunisten», bekräftigt Plaz. «Was das Politische angeht, sind die schweizerischen Verbindungen sicherlich am harmlosesten.» Der Luzerner Journalist und Rassismusforscher Hans Stutz erteilt dieser Aussage den Segen: «Meine Forschungen decken die vergangenen 50 Jahre ab. Seit dieser Zeit sind mir keine rechtsextremen Vorfälle im Zusammenhang mit Studentenverbindungen bekannt.» Die Zürcher Verbindungen bewegen sich laut Müggler tendenziell am ehesten im Feld der politischen Mitte bis rechts, wobei von Extremismus nichts zu spüren ist und man vom SP-Freund bis zum SVP-Anhänger alles finde. Altherr Mörgeli erinnert sich, dass er seinerzeit unter Kommilitonen politisch gesehen nicht mehrheitsfähig war. «Ich habe im Jahr 1979 mit dem Geschichtsstudium begonnen. Zu dieser Zeit wehte ein anderer Wind unter den Studenten», erzählt Mörgeli. Obwohl bei den Singstudenten nicht parteipolitisch diskutiert werde, dominiere schon das bürgerlich-liberale Gedankengut. «Es herrscht kein marxistischer Geist, das kann man schon sagen. Aber Politik steht nicht im Vordergrund», sagt Mörgeli. In ihren Anfängen galten Verbindungen als revolutionäre Kraft. Zur Gründungszeit des Schweizer Bundesstaates stellten die Studentenverbindungen eine der progressivsten Bewegungen des jungen Landes dar. «Im ersten Bundesrat der Schweiz sassen drei Räte, die der Helvetia angehörten und drei, die Mitglieder der Verbindung Zofingia waren», sagt Plaz nicht ohne Stolz.

Viertes Klischee: traditionell

Heute findet man im Gegensatz zu den Ursprüngen kaum mehr Revoluzzer unter den Couleurstudenten. Seit den Gründerjahren hat sich vieles verändert. In den 60er-Jahren war das Tragen der Farben noch Pflicht. «Beim Haupteingang war rechts ein Kleiderständer für die Couleurstudenten reserviert, wo sie vor Beginn der Vorlesung ihre Mützen aufhängen mussten. Der Fuxmajor konnte anhand der Mützen kontrollieren, ob alle seine Füxe in der Vorlesung sind», erzählt ein Turicer Altherr. Heute tragen die meisten Verbindungen ihre Mützen und Bänder nur noch zu offi-ziellen Anlässen. Andere Traditionen veränderten sich kaum. «Ich finde es interessant, dass die Studenten von 1890 ein völlig anderes Leben hatten als wir heute, die Traditionen in der Verbindung aber die gleichen geblieben sind», erzählt Letsch. Am Stamm der Carolingia gibt es etliche Verhaltensregeln: Man darf nicht essen, nicht telefonieren und nicht aufs Klo, ohne den Präsidenten um Erlaubnis zu bitten. «An und für sich sind das Dinge, die man im normalen Leben auch nicht einfach macht, wenn man einiger­massen gut erzogen ist», sagt Letsch. Für Müggler ist das alles eine Art Spiel und ein Turicer sagt sogar: «Wer das am Anfang nicht merkwürdig findet, ist wohl selber etwas merkwürdig.» Traditionsgemäss werden die Frageformeln in Latein ausgesprochen. So heisst der Klo-Antrag der Carolinger: «Hohes habeone tempus navigandi». Wenns dringend ist, kann es abgekürzt werden: «Hohes habeone t.n.» Diese Normen lernt man als so genannter Fux. In dieser Probezeit wird der Neuling in das Verbindungsleben eingeführt. Dabei ist der Fuxmajor sein Ansprechpartner. An den Stämmen ist es üblich, dass sie den Burschen das Bier bringen und ab und zu ein selbstgeschriebenes Gedicht, einen Witz oder ein kleines Theater zur Erheiterung der anderen vortragen. Mörgeli erinnert sich gut an seine Fuxenzeit: «Die Produktionen habe ich immer gerne gemacht. Da konnte noch mancher verborgene Talente entfalten.» Vom Fuxenstall tritt man nach zwei oder drei Semestern in den Burschensalon über. Jeder Fux muss eine Prüfung bestehen, in der er über die Verbindung, deren Geschichte, den Bier-Komment, das Studentenliedgut und die Bier- und Weingeschichte Bescheid wissen muss. Diese Prüfung ist streng. Auch Mörgeli musste zweimal antreten. «Das war wohl die einzige Prüfung, die ich nicht auf Anhieb bestanden habe. Immer wenn ich etwas nicht wusste, wurde ich alkoholisch bestraft. Dies führte natürlich dazu, dass ich es nicht unbedingt besser konnte», erinnert er sich.

Fünftes Klischee: Kampfhähne

Traditionsbewusstsein zeigt sich vor allem in schlagenden* Verbindungen. Mensurfechten und die damit verbundene Verletzungsgefahr stellen schon seit Jahren eine Kontroverse dar. So sprach sich im Jahr 2008 die damalige Basler CVP-Grossrätin Gabriele Stutz-Kilchner für ein Verbot des studentischen Fechtkampfs aus. Die Verbindungsvertreter jedoch wiegeln die Gefährlichkeit der Mensur ab: «Es ist eine spannende Sache mit einem Haufen Gratisadrenalin. Wenn du einen Fehler machst besteht das Risiko, dass du verletzt wirst, also einen kleinen Kratzer bekommst», sagt Müggler. «Es ist ja nicht so, dass der ganze Körper ungeschützt ist», ergänzt Plaz, «Hals, Augen und teilweise auch die Ohren sind geschützt. Ausserdem gibt es eine Halskrause, welche die wichtigsten Blutgefässe abdeckt.» Im Hochschulraum Zürich kreuzen die Utonia, der Fechtclub der Zürcher Singstudenten sowie die Helvetia Zürich immer noch die Klingen. Auch die Rodensteiner müssen fechten lernen, ob sie jedoch Mensuren schlagen möchten, ist jedem freigestellt. Entwickelt hat sich das Mensurfechten bereits im Mittelalter. «Damals durften Studenten neben Adeligen als einzige Waffen tragen. Trafen zwei Studenten aus verschiedenen Städten aufeinander, konnte es manchmal zu so genannten Raufduellen kommen, in späterer Folge entwickelte sich daraus das Mensurfechten», erzählt Plaz, der selbst bereits in drei Mensurgefechten angetreten ist. Richtige Duelle gibt es heute nur mehr vereinzelt, doch auf das Fechttraining legen die schlagenden Verbindungen immer noch grossen Wert. «Wir haben an zwei Morgen und an zwei Abenden Training als Vorbereitung auf die Mensur», erklärt der Helveter Plaz.

Sechstes Klischee: Seilschaften

Für die Couleurstudenten steht jedoch fest – der Hauptgrund in einer Verbindung aktiv zu sein, ist weder das Fechten noch das Biertrinken, sondern das Knüpfen von Seilschaften. Dabei sei jedoch der Nutzen von Karriereleitern kaum ersichtlich. «Klar kann es sein, dass man durch einen bekannten Altherrn an ein Praktikum rankommt, das ist aber eher eine Ausnahme», sagt Müggler. Der Jubiläumspräsident der Turicia denkt, dass auf Anhieb ein gegenseitiges Verständnis unter Verbindungsleuten herrschen kann, weil man zusammen Ähnliches erlebe. Er selbst erzählt von einem Ereignis aus dem Militär: «Ich reichte ein Urlaubsgesuch wegen einer Sitzung der Turicia ein und legte als Belegszettel die Traktandenliste bei. Am Abend bei der Nachtwache nannte mich mein Vorgesetzter plötzlich bei meinem Vulgo*. Dann gab er mir die Hand und stellte sich mit ‹Baron› vor.» Das Urlaubsgesuch wurde bewilligt. «Es herrscht einfach ein anderer Ton unter bekennenden Verbindungsleuten», erklärt er. Auch der selbsternannte Netzwerkbekämpfer Mörgeli zog seiner Ansicht nach keine Vorteile aus Verbindungskontakten. Aber durch die aktive Mitarbeit würden nützliche Fähigkeiten geschult wie Verantwortung zu übernehmen, ein Amt auszuüben und seine Überzeugung eloquent zu vertreten. Ausserdem sei laut eines Altherrn der Turicia die Zahl der Verbindungsstudenten inzwischen so irrelevant klein, dass sich kaum ein nützliches Netzwerk aufbauen könne.

Siebtes Klischee: Keine Freunde

Zwar bilden sich keine Seilschaften und Netzwerke, dafür finden Couleurstudenten Freunde fürs Leben. Haben die sonst denn keine Freunde? Für Christoph Mörgeli sorgte der Eintritt bei den Singstudenten in der Tat für einen geselligen Start ins akademische Leben. «Für mich als Landei war die Verbindung eine willkommene Gemeinschaft, um mich im urbanen Zürich zurecht zu finden», erinnert er sich. Bei den Zürcher Singstuden fühlte sich der passionierte Sänger Mörgeli gut aufgehoben. «Ohne den Gesang hätte mich der Singstudentenbetrieb wahrscheinlich weniger angesprochen.» Der grösste Profit, da sind sich die Couleurstudenten einig, sind die lebenslangen Freundschaften und die vielen guten Erinnerungen. «Es ist nicht so, dass wir zu wenige Kollegen hätten. Jeder von uns hat sein Umfeld ausserhalb der Verbindung», meint Müggler. Auch Turicerpräsident bestätigt das: «Ohne das Verbindungsleben wäre ich nicht absolut haltlos. Ich geniesse genauso die Abende mit den Kollegen ausserhalb der Verbindung oder mit meiner Freundin.» Mörgeli dünkt es sogar, dass die Couleurstudenten häufig Leute sind, welche auch in anderen Zirkeln gut Anschluss finden würden. Es handle sich nicht um «einen Haufen von Verschupften, die sich gegenseitig halten müssen.» Wenn ich so in die Runde der Turicer schaue, bestätigt sich Mörgelis Aussage. Schlagfertige junge Männer, die nicht den Eindruck machen, verloren zu sein. Ich fühle mich am Stamm willkommen. Der Abend hinterlässt den Eindruck von ernst gemeinter Herzlichkeit. Es fallen stichelnde Bemerkungen zu meinem letzten Artikel, der ausgedruckt bereits die Runde machte. Die Lieder werden Nebensache, ich lasse mich auf die Bierspiele ein und aufs Klo gehe ich erst zuhause – dann aber dringend.

Glossar

Aktiver: Bursch oder Fuchs. Altherr: Berufstätiges Verbindungsmitglied nach Studiumsabschluss. Bier-Komment: Reglement des Biertrinkens. Bursch: Vollmitglied. Burschensalon: Sitzbereich der Füxe auf einer Kneipe. Couleurstudent: Mitglied einer Verbindung. Fakultativ schlagend: Fechten lernen ist Pflicht, Mensuren freiwillig. Farbe tragen: Mütze und Bändel tragen. Fux: Neumitglied. Fuxenstall: Fiktiver Ort der Füxe. Inaktivbursch: Bursche in der Prüfungsphase. Kneipe: formelle Form des Zusammentreffens, häufig mit einem offiziellen Teil. Mensur: Fechtwettkämpfe zwischen schlagenden Verbindungen. Schlagende Verbindung: Mensuren schlagen ist Pflicht. Siebenfacher: Ritual verschiedener Verbindungen, bei der man sieben Quantin (Bier, Wein oder Schnaps) trinken muss. Variiert in seiner Ausführung, kann beliebig erweitert werden. Erwähntes Beispiel ist sehr ausschweifend. Stamm: lockeres Zusammentreffen, weniger formell. Trinkzwang: Wer den Bier-Komment akzeptiert, muss je nach Situation trinken. Vulgo: Übername, bekommt man beim Eintritt.

Links

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