Im Stadtzentrum von Lviv steht die Oper, am Ende des so genannte Svoboda-Prospekts. Lukas Messmer

Die Stadt der Denkmäler

Touristisch unerschlossen liegt an Osteuropas Rand die Ukraine. In Lviv, der siebtgrössten Stadt, ist die weltmännische Vergangenheit allgegenwärtig. Aber auch der sowjetische Terror. Der Bericht einer Pressereise.

10. April 2008

Erst gerade ins neue Jahr gestolpert, trudelte anfangs Januar folgende Email in mein Postfach: «Einer kleinen Gruppe Schweizer Journalisten möchten wir Lviv und die Ukraine näher bringen. Gerne laden wir Sie ein zu einer Kurzreise ein.» Freundlich grüsste die Ukraine International Airlines (UIA). Erstaunt ob dieser Ehre sagte ich zu. Obwohl mir zur Ukraine auf die Schnelle nicht mehr in den Sinn kam als das Spiel gegen die Schweizer im WM-Achtelfinal 2006, Tschernobyl und die orange Revolution. Ich mailte meine Postadresse und zwei Wochen vor der Abreise lag mein Ticket im Briefkasten. Es stellte sich heraus, dass die willkürliche Auswahl tatsächlich willkürlich war. Mein Text im «Schweizer Journalist» über die Rolle der Gratiszeitungen im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen fand der Verantwortliche gut, das genügte.

Vodka zum Zvieri

Wir reisen zu fünft: Reiseleitung von der UIA, je ein Journalist von der Neuen Zürcher Zeitung und vom Sonntag, sowie eine Journalistin von der Neuen Luzerner Zeitung. Die UIA fliegt täglich von Zürich nach Kiew. Unser Grüppchen fliegt Business Class, mit dem Linienflug am Freitagmittag. Irgendwie hatte ich mir gestandene Journalisten anders vorgestellt. Wie, kann ich nicht genau sagen – aber anders. Weltmännischer, wortgewandter, erfahrener, auf jeden Fall nicht Menschen wie du und ich. Aber das sind sie. Nach vier Stunden Flug landen wir in Kiew. Der Flughafen ist ein starker Kontrast zu demjenigen in Zürich. Obwohl die Ukraine mit 47 Millionen Einwohnern viel grösser ist als die Schweiz, wirkt der Kiewer Flughafen provinzial. Die Einreisekontrolle verläuft schleppend, von allen Passagieren verlangen die Beamten die Pässe und schauen irgendetwas im Computer nach. Ich händige mein rotes Büchlein einem Typen aus, der aussieht wie ein sowjetischer Bösewicht in einem James-Bond-Film. Irgendetwas stimmt nicht, auf ukrainisch schnauzt er mich an und weist mich aus der Reihe. Offenbar habe ich ein notweniges Formular falsch ausgefüllt. Ich darf aber dann doch einreisen. Wir wechseln das Terminal, zu Fuss über den Autoparkplatz. Sofort scheinen sich erste Vorurteile zu bestätigen: Rauchende Männer in schwarzen Jacken lümmeln herum, Frauen mit blondierten Mähnen stöckeln in Miniröcken und Highheels neben ihnen her. Die Russenmafia in Kiew? Im kleinen Restaurant neben dem Restaurant gibt es ukrainisches Bier. Es hat die nötige Qualität, um unsere Wartezeit zu vertreiben. Eine Gruppe von Männern hinter uns trinkt eine Flasche Vodka zu Pommes Frites und Schnitzel.

Rosarote Sehenswürdigkeiten

Am Flughafen holt uns ein Fahrer mit einem klapprigen Minibus ab. Erste Eindrücke der Stadt ziehen an uns vorbei, bunt gefärbt durch die rosaroten Fensterscheiben. Die Häuser wirken verlottert, kaputt und trostlos. Verkehrsregeln gibt es anscheinend wenig und am Strassenrand folgt eine Vodkawerbung auf die nächste. Wir ziehen an einem Tramwagen vorbüber, der auf krummen Geleisen Richtung Stadtzentrum rattert. Während wir uns dem Zentrum nähern, ändert sich das städtische Erscheinungsbild. Riesige, graue Betonbauten weichen mehrstöckigen, alten Häusern, die an eine weltmännische Vergangenheit erinnern. Bald folgt der obligate McDonalds, aber trotzdem wirkt Lvivs Innenstadt überhaupt nicht wie eines der inzwischen austauschbaren, internationalisierten und verunstalteten Stadtzentren anderer westlicher Städte. Die lokale Agentur hat für uns das Hotel George am Mickiewicz-Platz gebucht, ein alter Prunkbau aus dem 19. Jahrhundert. Bei den hohen Zimmern würde wahrscheinlich nicht einmal der mit 2.59 Metern grösste Mann der Welt, ein Ukrainer namens Leonid Stadnik, die Decke berühren.

Fasziniernde Friedhöfe

Am zweiten Tag ist eine Stadtführung geplant. Wir treffen dafür die 24-jährige Oksana, Germanistikstudentin aus Lviv. Neben dem Studium führt sie Touristen durch die westliche Ukraine. Obwohl sie noch nie längere Zeit in Deutschland war, spricht sich ein fast perfektes Deutsch. Sie verwechselt einzig Wörter wie «original» und «originell». Abermals fahren wir mit dem Klappermobil, holpern über die gepflasterten Strassen und lassen uns die rosarot getönten Sehenswürdigkeiten erklären. Dazu gehören vor allem Kirchen, Denkmäler und Grabsteine. Auf dem Lychakivske-Friedhof treffen wir auf über 200 Jahre Heldentum, Geschichte, Ruhm und Ehre. Auf 42 Hektaren liegen hier 300'000 Gräber. Fast eine Stunde wandern wir über den Hügel, der einem Landschaftspark ähnelt, und bewundern die kunstvoll angelegten Grabmäler. Skulpturen, Kapellen, viele Bilder und Porträts: Es ist fast unmöglich, sich dem Zauber der fantasievollen und von polnischen, ukrainischen, deutschen und vielen anderen Nationalitäten errichteten Grabsteinen zu entziehen. Gräber von berühmten Personen wie die der Opernsängerin Solomiya Krushelnytska, des Dichters Ivan Franko oder des Komponisten und Sängers Volodymyr Ivasyuk, dessen Song «Chervona Ruta» 1971 die ganze Sowjetunion begeisterte, sind mit farbigen Plasikblumen geschmückt. Heute ist die Ruhestätte geschlossen, nur Prominente oder Reiche, die 20'000 Dollar für einen Platz zahlen müssen, werden noch aufgenommen. Offenbar mag die Lviver Bevölkerung nicht nur Grabsteine, sondern auch Denkmäler. Taras Schewtschenko, ein Dichter des 19. Jahrhunderts, der in ukrainischer Sprache publizierte und als eine Art nationalitätsstiftender Dichter vereehrt wird, ist allgegenwärtig. Sein strenger Blick über dem buschigen Schnauz folgt einem Schritt und tritt, seine bronzefarbenen Abbilder sind unzählbar. Vor dem Polizeiposten preist ein Denkmal vom Drachentöter St. Georg die Tapferkeit der Beamten. Auch ehemalige Politiker, wie der Nationalist Stepan Bandera oder den Präsidenten der erste unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik von 1918, Mykhailo Hrushevsky, ehrt man an prominenten Plätzen mit Statuen. Über 60 Kirchen von drei christlichen Konfessionen stehen in Lviv. Der berühmteste Bau der griechisch-katholischen Konfession ist die St.-Georg-Kathedrale, die auf einem Hügel über der Stadt thront, gleich neben einem Relikt der Sowjets, einem Störsender. Daneben besichtigen wir russisch-orthodoxe und römisch-katholische Kirchen.

Geografisches Zentrum Europas?

Nach Berechnungen eines polnischen Kartografen liegt Lviv beinahe im geografischen Zentrum Europas, ziemlich genau auf der europäischen Wasserscheide. Das ist auch der Grund, weshalb in Lviv manchmal Wassermangel herrscht. Fliessendes Wasser erhalten die Bürger von Lviv nur zweimal am Tag, jeweils von 6 bis 9 Uhr. Lviv hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Gegründet wurde die Stadt 1256 vom Herrscher über Galizien, dem Fürst Danylo Halytskyi. Der Name der Stadt wird überall anders ausgesprochen, auf ukrainisch «Lviv», die Russen sagen «Lwow», die Polen «Luv», die Deutschen «Lemberg» und wer lateinisch mag, kann «Leopolis» gebrauchen. Während Jahrhunderten gehörte die Stadt zu Polen, bis sie am Ende des 18. Jahrhunderts an Österreich-Ungarn ging. Im ersten Weltkrieg wurde sie von den Russen gestürmt, gehörte zur Zwischenkriegszeit wieder zu Polen und nach dem zweiten Weltkrieg annektierte schliesslich die Sowjetunion das Territorium. Seit der Wende gehört die Stadt zur Ukraine. Aus all diesen Perioden hat Lviv Überreste behalten. Auch die alten Viertel der jüdischen und armenischen Bevölkerung gehören zu diesen Spuren. Darum werde Lviv häufig auch der «Schmelztigel von Osteuropa» genannt, weiss unsere Führerin Oksana. Die verlässt uns gegen Abend, und wir machen uns auf zum Besuch der Oper.

Bäuerinnen in Lederstiefeln

Wir schauen uns ein ukrainisches Stück an, «Das gestohlene Glück» von Ivan Franko. Die Oper ist eher klein, aber chic und schön instand gehalten. Zuerst verirren wir uns auf der Suche nach einem Spiegelsaal, in welchem auch Szenen für den französischen Film «Die drei Musketiere» gedreht worden sein sollen. Obwohl wir kein Wort verstehen, gefällt das Stück und die Musik ist schön. Aus dem Programmheft entziffern wir, dass es sich um eine Oper in drei Akten handelt. Ein Bauernmädchen aus den Karpaten wird gegen ihren Willen verheiratet. Ihre grosse Liebe ist der Polizist des Dorfes, der später aus Rache ihren Ehemann ins Gefängnis steckt. Nach dramatischen Szenen gegen Schluss erschlägt dieser den Polizisten mit einer Axt. Im Unterschied zu hiesigen Stücken stellen die ukrainischen Schauspieler die Bauern ganz anders dar: In traditionellen, schönen Kleidern, blitzblank und mit Lederstiefeln für die Frauen. In Westeuropa würden diese Bauern in Lumpen herumlaufen.

Goldenes Hufeisen

An unserem zweiten Tag fahren wir aufs Land. Im Bus ist allgemeines Dösen ist angesagt, die nächtlichen Vodkas und Biere vom Vorabend fordern ihren Zoll. Auf der Fahrt werden einem zum ersten Mal die riesigen Dimensionen der Ukraine – flächenmässig das grösste Land Europas – bewusst. Und wegen den riesigen grünen Flächen, warum es als die Kornkammer Europas gilt. Die gelb-blaue ukrainische Flagge symbolisiert dementsprechend goldgelbe Kornfelder unter stahlblauem Himmel. Unsere Route ist ein Teil des so genannten «goldenen Hufeisens», einer Reihe von Burgen und Schlössern in der Umgebung von Lviv. Erste Station ist Zolochiv, wo wir eine kleine Festung besuchen. Auffällig ist, dass überall restauriert wird. Man versucht sich für Touristen fit zu machen, auch mit Blick auf die Europameisterschaft 2012, die in Ukraine und Polen stattfinden wird. Wenn Geld vorhanden ist, wir restauriert, sonst pausiert, bis wieder welches da ist. So begegnet man frisch renovierten Dächern, die in der Sonne leuchten, während unter ihnen das Haus einzustürzen droht. Neben einem halb gebauten Soldatenfriedhof mit bereits geschmückten Gräbern, stehen Bagger und liegen Schaufeln herum. Im Schlösschen in Zolochiv ist ein kleines Museum mit Ausstellungsstücken aus aller Welt untergebracht. Warum gerade diese willkürlich zusammen gewürfelten Gegenstände den Weg hierher gefunden haben, ist schleierhaft. Die Reiseführerin erklärt mit der Schnelligkeit eines Maschinengewehrs die verschiedenen Stücke, eine anwesende Schulklasse hört gespannt zu. Überhaupt sind die vielen Schulklassen erstaunlich: Auf dem Friedhof, in der Stadt, hier auf dem Schloss, scheinen sie die einzigen weiteren Touristen sein. Dafür hören sie ohne Ausnahme gebannt zu. Fast für jeden Raum ist eine eigene Reiseführerin zuständig, auch hier wird klar: Arbeit ist billig, Kapital teuer. In Pidhirtsi besichtigen wir ein verfallenes Schloss, das im 17. Jahrhundert von polnischen Adligen gebaut wurde. Zwischendurch wurde es als Chemielabor und als Heim für Tuberkulosepatienten genutzt. Heute fällt es auseinander. Der ukrainische Staat will es zwar restaurieren, hat aber kein Geld dafür. Über der Autobahn nach Olesko ragt ein schwarzes Ungetüm in den Himmel, das auch schon Unfälle verursacht haben soll. Direkt über der Strasse thront ein altes, sowjetisches Kriegsdenkmal. Die Ukrainer haben nach dem Ende der sowjetischen Besatzung zwar versucht, das Ding zu sprengen, aber die Fundamente waren zu tief und so liess man es stehen. In Olesko steht auf einem künstlichen, 50 Meter hohen Hügel das letzte Schlösschen dieses Tages. Hier ist der polnische König Jan III. Sobieski geboren, der einst Wien vor dem osmanischen Ansturm gerettet hatte. Auf der neu gebauten Autobahn Lviv – Kiev kehren wir zurück nach Lviv.

Ukraine: Hinfliegen!

Am östlichen Rand von Europa ist das Leben ist nach wie vor spottbillig, Bier gibt’s für einen Franken und ein mehrgängiges Menü für unter zehn Franken. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind sozusagen gratis. Aber die Ukraine aus nur aus Preisgründen zu besuchen, wäre ein grober Fehler. Die Stadt und ihre Umgebung haben einen eigenen Charme. Wer touristische Infrastruktur braucht, ist jedoch am falschen Ort. Wohl auch, wer sich nicht für Geschichte interessiert. Der Mix aus Überresten aus dem Mittelalter, der Kaiserzeit und der sowjetischen Besatzung hat eine aufregende Mischung von Nationalitäten, Kultur und Bauten hervorgebracht. Russische Störsender neben Kathedralen, moderne Bankhäuser neben Bauten der Kaiserzeit, dazwischen junge Ukrainerinnen in Miniröcken und alte Damen, die Blumen verkaufen. Der billige Alkohol hat uns dann fast die Rückreise versaut. Während ich, unser Reiseleiter sowie der Sonntag-Mann in der Lobby bereitstanden, lagen der Herr der NZZ und die Dame von der NLZ noch in den Federn. Nach einigen Telefonen aufs Zimmer erreichten wir das Flugzeug dann doch noch. Ich habe dann noch herausgefunden, dass so eine Pressereise für die Organisatoren eigentlich ein ziemlich guter Deal ist. Die Airline und das Hotel haben nämlich ein Interesse daran, leere Plätze aufzufüllen. Dafür werden jetzt vier Schweizer Zeitungen mit insgesamt fast einer Million Lesern etwas über Lviv schreiben.