Haus der erfahrbaren Literatur
Hinter dem Sankt Peter an der Augustinergasse liegt der Strauhof, ein Museum, das nicht so genannt werden will. Seine Ausstellungen inszenieren Texte und Bücher im gesamten Raum, um sie zugänglicher zu machen.
Vom Sankt Peter her läuten die Glocken und vereinzelt hallen Schritte über das Kopfsteinpflaster: die Augustinergasse um die Mittagszeit am träge-grauen Apriltag. Jetzt im Frühling ist die Eingangstür der Strauhofs von Blättern umwoben und über dem Rahmen steht: «love loves to love love». Etwas kryptisch und gleichzeitig passend für einen Ort, der sich der «Wirklichkeit der Literatur» verschrieben hat. Der Strauhof definiert sich selbst nicht als Literaturmuseum, sondern als «Ort kultureller Bildung». Im barocken Bürgerhaus soll Literatur erfahrbar und zugänglicher gemacht werden.
Das Image entstauben
Die Tür schwingt auf und es warten stuckverzierte Decken und warmes Holz. Hier werden auf zwei Stockwerken wechselnde Ausstellungen zu Autor*innen, einzelnen Werken und thematischen literarischen Schwerpunkten gezeigt. In den Zeiten zwischen den Ausstellungen verleiht der Strauhof «Wild Cards». Mit diesen können Kunstschaffende mit Bezug zur Literatur die Ausstellungsräumlichkeiten für eine Woche nutzen.
Seit 2015 wird der Strauhof vom gemeinnützigen Verein «Literaturmuseum Zürich» im Auftrag der Stadt Zürich getragen. Zu dieser Zeit ist auch Rémi Jaccard zum Team hinzugestossen, er ist Leiter des Strauhofs. Ziel der Neuausrichtung war unter anderem, ein breiteres Publikum anzusprechen. «Die klassische Literaturausstellung hat ein etwas verstaubtes Image», sagt Jaccard. Finstere Räume und Bücher in Schaukästen, deren Inhalt nur mit viel Willen zu entziffern ist. Im Strauhof findet sich daher wenig schummriges Licht. Es ist hell, einladend, luftig. Der Strauhof will genau nicht nur Literaturkenner*innen ansprechen, sondern auch jene, die im Alltag wenig Kontakt mit Büchern haben. Das Ziel ist es, die Welten, die zwischen den Buchdeckeln schlummern, räumlich erfahrbar zu machen und dadurch der Auseinandersetzung mit Literatur ein Stück weit das Elitäre zu nehmen. Wenn man durch die Räume läuft, erlebt man, dass Literatur durchaus fassbar sein kann. «Wir schaffen einen Ort, wo die Begegnung mit Literatur in einem physischeren Sinn stattfindet, als nur ein Buch in der Hand zu halten», sagt Jaccard. Konkret bedeutet das, dass die Ausstellungen von atmosphärischen Mitteln leben. Raumarchitektur, Lichtführung und Typographie der Primär- und Begleittexte sind alles Elemente, mit denen Geschriebenes in Erfahrbares übersetzt werden kann.
Im Mittelpunkt steht dabei immer die Frage, wie die Gedankenbilder, die beim Lesen ausgelöst werden, inszeniert werden können. So wollten Jaccard und sein Team in der aktuellen Ausstellung zu Virginia Woolfs Roman «Mrs. Dalloway» das London der 1920er-Jahre als Schauplatz erlebbar machen. Durch grosse Leinwände und Audioaufnahmen der Geräuschkulisse eröffnet sich ein Zugang zum Zeitgeist der Grossstadt. Manuskripte und Typoskripte, Erstauflagen und Briefe bereichern eine Ausstellung zusätzlich, indem sie den Arbeitsprozess der Autor*innen sichtbar machen. So funktionieren die Ausstellungen ohne Vorwissen. Gleichzeitig sollen sie denen, die mit dem Stoff schon sehr vertraut sind, etwas Neues bieten können. Das dynamische Eigenleben von literarischer Sprache dürfe trotz unterstützender Vermittlung durch Audio und Video nicht zu kurz kommen: «Denn Literatur ist nicht allein Plot, den man nacherzählen kann.»
Unzählige Schritte, die über die gewundene Treppe hinauf in den ersten Stock poltern – im Strauhof gehen viele Schulklassen ein und aus. Zwischen diesen Fixpunkten in der Besucher*innen-Demografie finden je nach Thema unterschiedliche Leute den Weg in eine Ausstellung. Das hat auch damit zu tun, dass der Strauhof mit seinem Programm den Mittelweg zwischen Kanon und Diversität geht. Grosse Jubiläen wie jetzt zu Woolfs «Mrs. Dalloway» oder letztes Jahr zu Kafkas hundertjährigem Todestag treiben die Sichtbarkeit und die Besucher*innenzahl hoch. Sie sollen das Ausstellungsprogramm aber nicht dominieren. So gab es die letzten drei Jahre im Sommer jeweils eine Ausstellung zu Literaturen des afrikanischen Kontinents. Letzten Sommer lag der Fokus auf den Literaturszenen aus zwei Grossstädten in Westafrika: Abidjan und Accra. Gezeigt wurden Texte von kontemporären Autor*innen. «Wir wollen nicht nur verstorbene weisse Männer zeigen. Wir versuchen, den Kanon über zeitliche, geographische und geschlechtliche Dimensionen hinweg auszuweiten», sagt Jaccard. Das Team ist klein; vier Leute arbeiten gemeinsam mit Jaccard, dazu kommen vier Aufsichtspersonen. Daher kooperiert der Strauhof immer mit externen Institutionen und Personen. Literaturwissenschaftler*innen, oft von der Universität Zürich, kuratieren gemeinsam mit dem Team die Ausstellung, Grafiker*innen setzen die Gestaltung um. Für jede Ausstellung stellt der Strauhof ein Rahmenprogramm zusammen, das oft auch extern in anderen Kulturbetrieben stattfindet.
Kulturorte halten zusammen
Ob Cabaret Voltaire, Literaturhaus, Theater Neumarkt oder Karl der Grosse, mit allen nahen Altstadt-Nachbar*innen hat der Strauhof schon Veranstaltungen durchgeführt. Die gepflasterten Gässchen wirken verbindend. «Es ist eine sehr schöne Entwicklung», findet Jaccard, «dass die verschiedenen Kulturorte versuchen, zusammenzuarbeiten. Wann immer möglich schauen wir, wie wir verschiedene Kunstformen verbinden können.» Die Kulturbetriebe unterstützen sich gegenseitig. Dieser Zusammenhalt leuchtet besonders stark vor der sich ändernden Medienlandschaft, die vermehrt umtreibt, ein. «Das Verschwinden von Kulturkritik und Feuilleton ist spürbar und eine Herausforderung», so Jaccard. Doch er lenkt ein, dass der Strauhof sich hier in einer privilegierten Situation befinde. Denn ein literarisches Ausstellungshaus wie den Strauhof gibt es so kein zweites Mal in der Schweiz. Mit dem Konzept, Literatur erlebbar zu machen, fahre man gut.
Lesebühnen, Verlage, Bibliotheken, Buchantiquariate und eine Faszination für das geschriebene Wort, die sich bis zur Reformation zurückzeichnen lässt: Zürich ist eine Literaturstadt; der Strauhof trägt dazu bei, dass es so bleibt. Auch für Studierende lohnt sich ein Innehalten an der Augustinergasse. In der Sommerhitze lockt der Strauhof mit seinen kühlen, dicken Steinwänden. Im Herbst und Winter ist das alte, knarzende Haus wunderbar gemütlich. Für eine Weile aus dem Alltag abtauchen, hinein in Wort- und Erfahrungswelten – das ist hier möglich.