Wohin mit den Stüdlianer*innen?
Mit dem «Stüdliweg» räumt das Jugendwohnnetz (Juwo) im Juni eine seiner grössten Siedlungen. Der Wohnungsmarkt muss sich nun für 350 Studierende rüsten.
«Da lob ich mir die rauchenden Menschen», sagt Christine Wullschleger zwischen zwei Schlucken Bialetti-Kaffee. Die 74-Jährige wohnt seit über 27 Jahren an der Ernastrasse. Von ihrem Küchenfenster blickt sie direkt auf den Stüdliweg, eine der grössten Juwo-Siedlungen der ganzen Stadt. In den letzten Jahren stand alle paar Tage ein Zügelauto vor ihrem Fenster und Christine hat Studierende und Auszubildende kommen und gehen sehen. Dabei hat sie nicht nur die Raucher*innen auf ihren Balkonen wenige Meter gegenüber, sondern auch die grosse Hilfsbereitschaft der «Stüdlianer*innen» kennengelernt: «Vor einiger Zeit habe ich in ganz Zürich nach jemanden gesucht, der mir für ein Kunstprojekt hilft, ein paar Harfensaiten zu spannen». An allen möglichen Musikschulen habe sie Aushänge gemacht, einen Lohn angeboten – doch niemand meldete sich. Schliesslich bat sie ihren Sohn zur Hilfe, als Pfadichind würde er das schon hinkriegen. Während der Kaffee schon kochte, blickte sie aus dem Fenster und sah: einen Stüdlianer mit Harfe. «Das darf nicht wahr sein. Kaffee ab dem Herd, raus, in den Finken, dem nach.» Eine halbe Stunde und einen erleichterten Sohn später waren die Saiten gespannt.
Bereicherung fürs Quartier
Christine hat eine ganze Reihe solcher Geschichten auf Lager. Seit die Gemeinnützige Bau- und Mietergenossenschaft Zürich (GBMZ), der das Areal Stüdliweg-Ernastrasse gehört, 2018 entschieden hat, auf dem Gelände einen Neubau zu errichten, hat sie mit angehende Architekt*innen und Umweltingenieur*innen geplaudert, mit Klimastreikenden diskutiert und natürlich ein Harfenkonzert besucht. Wegen zahlreicher Abklärungen zur Vereinbarkeit des Baus mit städtebaulichen Verordnungen verzögerte sich der Baustart am Stüdliweg, die Bewilligung dafür erteilte die Stadt erst letztes Jahr. Das Juwo war während der Verzögerungen Untermieterin der Wohnungen und konnte so länger als gedacht Wohnraum an zentraler Lage vergeben. Doch Ende Juni müssen die 350 Studierenden und Auszubildenden ihre WGs 3endgültig räumen. Auch wenn Christine den frischen Wind im Quartier vermissen wird, findet sie den Neubau richtig. Als Genossenschafterin steht sie auf der Warteliste für eine der neuen Wohnungen und hofft, dass sie so noch möglichst lange selbstständig wohnen kann: «Irgendwann werde ich einen Lift brauchen und Zimmer ohne Schwellen.» Trotzdem: Neubauten stehen in den letzten Jahren immer mehr in der Kritik. Sie vertreiben alte Mieter*innen aus ihrem Quartier, führen, auch in Genossenschaften, zu deutlich höheren Mietzinsen als in den Altbauten und setzen im Vergleich zu einer Sanierung viel mehr CO2 frei. Bei der nahegelegenen «Seebahn-Kolonie», der letzten anderen Juwo-Grosssiedlung im Kreis 4, verzögern sich die Neubaupläne schon seit über 15 Jahren. Und erst vor wenigen Monaten formierte sich eine neue Gruppe, die den Neubau auf den letzten Metern noch stoppen will. Auch der Zürcher Gemeinderat hat aus Klimaschutzgründen kürzlich zwei Postulate verabschiedet, die Umbauen und Sanieren attraktiver machen sollen.
Anschlusslösung nicht garantiert
Die Genossenschaft GBMZ verteidigt das Projekt am Stüdliweg aber: «Wir haben uns das sehr gut überlegt», sagt Kommunikationsverantwortliche Katarina Wietlisbach. «Der Ersatzneubau soll nicht nur mehr Wohnraum schaffen, sondern bringt einen besseren Wohnungsmix, mehr Zugänglichkeit, Lärmschutz, mehr Gemeinschschaft, grünere Aussenräume und nachhaltige Energie. Es geht um mehr Lebensqualität – im Grossen und Kleinen.» Für die Bewohner*innen war im Grunde immer schon klar, dass der Stüdliweg keine langfristige Lösung ist. Für den Wohnungsmarkt dürfte das Ende aber eine Belastungsprobe werden: Der Anteil an leeren Wohnungen in der Stadt liegt seit Jahren weit unter 1,5 Prozent, der offiziellen Grenze für Wohnungsmangel. Im Jahr 2024 waren es am Stichtag gerade einmal 0,07 Prozent – das sind 158 leere Mietwohnungen in der ganzen Stadt, davon nur rund 15 Prozent mit mehr als drei Zimmern. Die ZS hat sich bei den «Stüdlianer*innen» umgehört und wenig überraschend festgestellt: Die meisten haben noch nichts Neues. In einer Umfrage mit rund 100 Teilnehmenden im Siedlungs-Gruppenchat «Stüdli Basar» sind rund 80 Prozent noch auf der Suche – oder lösen ihre WG ganz auf. Ein kleiner Rest hat etwas auf dem freien Wohnungsmarkt gefunden. Viele hoffen darum auf eine Ersatzlösung im Juwo. Doch ob die Stiftung auf einen Schlag 350 Personen neue Wohnungen bieten kann, ist fraglich. Alisha Müller, Mitglied der Geschäftsleitung des Juwo, erklärt auf Anfrage: «Wir geben unser Bestes». Einen Ersatz garantieren könne man aber nicht. Immerhin: Wer seine bisherige Wohnung verlassen muss, hat Priorität: «Wenn bei freien Wohnungen oder neuen Siedlungen verschiedene Bewerber*innen in Frage kommen, werden immer diejenigen bevorzugt, die eine Anschlusslösung brauchen.»
Befristung ist Teil des Deals
Doch am Ende sei das eben auch, worauf man sich bei einer Juwo-Wohnung einlasse: Ein günstiger, pauschaler Mietzins an toller Lage – und in vielen Fällen eine Befristung. Dass Wohnungen teils bis zum letzten Tag zwischenvermietet werden, sei nun einmal das Geschäftsmodell des Juwo und auch der Grund, warum dieses Orte wie den Stüdliweg überhaupt erhalte. Eine studentische Wohnkrise wegen dem Stüdliweg sieht das Juwo aber nicht: «Wir dachten schon öfters ‹Das wird eine Herausforderung›, und am Ende hat dennoch jede*r eine Lösung gefunden.» Einen ähnlich günstigen und gut gelegenen Anschluss werden aber wohl die wenigsten finden. Ein Zimmer in einer Dreier-WG ohne Wohnzimmer kostet am Stüdliweg 421 Franken im Monat. Zum Vergleich: Im frisch sanierten «Haus Eber», das zwei Bushaltestellen weiter liegt, kostet ein Wohnplatz durchschnittlich 750 Franken im Monat. Viele neuere Juwo-Projekte befinden sich stattdessen eher am Stadtrand – etwa in Schwamendingen, wo es alte Genossenschaftsbauten gibt. Für viele WGs geht damit eine Ära zu Ende – so auch für Sandro* und seinen Mitbewohner Jonas*: «Ganz ehrlich, ich stell mich grad darauf ein, dass ich in Zukunft halt nicht mehr in Zürich wohnen werde». Er zuckt mit den Schultern und blickt vom Balkon aus die Strasse hinab. Er und Sandro sind beide nicht mehr lange Juwo-tauglich.
In der Stadt – but at what cost?
Sandro hat nun mit vielen anderen Kolleg*innen ein Miethaus in Hottingen gefunden – deutlich teurer, aber immerhin in der Stadt. Das Leben im Kreis 4 wird er trotzdem vermissen: Vor seiner Zeit am Stüdliweg hat er schon in der Nähe gewohnt, trifft sich mit Freunden häufig im kurdischen Quartierlädeli zu Linsensuppe und Kaffee oder zum Jam in der Gotthard-Bar. Jonas hingegen geniesst nun seine letzten Monate in Zürich. Er engagiert sich bei der Arbeit für einen sozialökologischen Wandel und seine Jobs, erklärt er, zahlen schlicht nicht genug für eine Wohnung hier: «Und irgendwo hab ich auch gemerkt…Eine Stadt, die so keinen bezahlbaren Wohnraum bietet, ist auch einfach nicht meine Stadt». Hinter ihm weht der Wind Staub von der angrenzenden Baustelle hinüber, aus einem Radio scheppern italienische Balladen, über unseren Köpfen dreht sich der Kran und Maschinenlärm dröhnt um die Ecke. In wenigen Monaten ist auch der Balkon, auf dem er sitzt, nur noch ein Trümmerhaufen.
*Namen von der Redaktion geändert