Trotz Angst nicht aufhören
Die Lesereihe «Drag Story Time» wurde nach Angriffen rechter Gruppierungen eingestellt. Drag Queen Ivy Monteiro spricht über Empathie und die Folgen queerfeindlicher Gewalt.
«Im ersten Moment fühlte ich mich richtig hilflos», sagt Ivy Monteiro, afro-brasilianische Künstlerin und Aktivistin. Sie war dabei, als im Herbst 2022 neun Mitglieder der rechtsextremen Jungen Tat die «Drag Story Time» im Tanzhaus Zürich stürmten. Die jungen Männer zündeten Fackeln an, skandierten rechte Parolen und versperrten den Besucher*innen den Ein- und Ausweg. Es war nur eine von vielen queerfeindlichen Aktionen, die die rechtsradikale Gruppierung in den letzten Jahren durchführte. Bei der Veranstaltung lasen Drag-Künstler*innen Familien aus Kinderbüchern vor, mit dem Ziel, Kindern ein offenes und tolerantes Gesellschaftsbild zu vermitteln. Organisator*in war die Künstler*In, Kinderpädagog*in und Performer*in Brandy Butler. Gegen sechs Mitglieder der Jungen Tat erliess die Zürcher Staatsanwaltschaft letzten November Strafbefehle wegen Nötigung, Sachbeschädigung, Rassendiskriminierung und weiteren Delikten wie etwa der Störaktion im Tanzhaus.
Gegendemonstration schützt Lesung
Doch nicht nur die Junge Tat bereitete den Initiant*innen der «Drag Story Time» Schwierigkeiten. Im Mai 2023 hatten Rechtsextremist*innen und Verschwörungstheoretiker*innen zu einer «Mahnwache» gegen eine weitere Veranstaltung in der Pestalozzi-Bibliothek aufgerufen, die schlussendlich unter Polizeischutz stattfinden musste. «Ich war schockiert», sagt Dr. Yuvviki Dioh, Diversitätsagent*in des Schauspielhauses Zürich. Sie hatte für die Veranstaltung eng mit Butler zusammengearbeitet. Auf den Aufruf zur Mahnwache reagierten die Veranstalter*innen mit einem Appell zur Gegendemonstration. Fast 300 Personen fanden sich ein, um für festliche Stimmung zu sorgen und den Besucher*innen so die Angst zu nehmen. «Schlussendlich war es eine sehr schöne Erfahrung. Wir haben verschiedene Menschen erreicht, die bereit waren, sich als Schutz vor die Bibliothek zu stellen», sagt Dioh. Dass sich so viele Menschen dazu eingefunden hatten, gab den Veranstalter*innen Hoffnung. Doch die Aktion gab Dioh auch zu denken: «Dass die Störaktionen junger rechter Kräfte so strategisch geplant und ausgeführt wurden, war ein Weckruf.» Vor eineinhalb Jahren beschloss Butler, die Drag Story Time nicht mehr fortzuführen, da sie die Sicherheit der Kinder nicht mehr garantieren könne, wie sie dem Tagesanzeiger erklärt. Monteiro hätte sich mehr polizeiliche Unterstützung gewünscht. Zwar war diese zu Beginn der Lesungen präsent, das Sicherheitspersonal hatten die Veranstalter*innen jedoch selbst eingestellt. Auf Anfrage teilte die Medienstelle der Stadt Zürich mit, dass bei privaten Anlässen die Veranstaltenden grundsätzlich verantwortlich für die Sicherheit seien. Die Polizei stehe « beratend zur Seite» und habe in diesem Fall mit den Veranstalter*innen in Kontakt gestanden und eine Lagebeurteilung durchgeführt. Dass die Veranstaltungsreihe nicht mehr stattfinden kann, macht Monteiro wütend und frustriert. Sie hatte mit grosser Freude mitgearbeitet, bis es zu gefährlich wurde: «Wir haben unser Bestes gegeben», sagt sie. Sie selbst lasse sich von den Einschüchterungsversuchen nicht unterkriegen: Wo sie aufgewachsen sei, habe sie ganz andere Formen von Gewalt erlebt.
Zuhören ist die Lösung
Und dennoch: «Ich sage nicht, dass es schlimmer wird, aber es kann schlimmer werden. Wir leben in sehr turbulenten Zeiten.» Ans Aufhören denkt Monteiro nicht: «Wenn ich aufhöre, dann weil ich müde bin, aber nicht, weil ich Angst habe.» Die queerfeindlichen Vorfälle im Tanzhaus und in der Pestalozzi-Bibliothek sind keine Einzelfälle. Laut der Schweizer Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) waren 2023 rund 20 Prozent der diskriminierenden Vorfälle LGBTQ-feindlich. Eine amtliche schweizweite Statistik zu queerfeindlichen Vorfällen fehlt jedoch. Heute ist Monteiro eine von drei Dragqueens in der «kleinen Meerjungfrau», einer Inszenierung am Schauspielhaus Zürich. Das Stück ist eine Mischung aus Theater, Musical und Drag-Show. Das Märchen funktioniert als Gerüst, um persönliche Geschichten und die Lebensrealitäten der Schauspieler*innen zu erzählen. Ein ergreifendes Stück über Selbstbestimmung, Zweifel und Ausgrenzung, das die Reaktionen von Gesellschaft und Politik auf queere Biografien thematisiert. Als eingewanderte Schwarze trans Person sei nicht nur ihre Kunst, sondern auch ihr Leben etwas Politisches, ob sie es wolle oder nicht. Auch ihre Kunst beeinflusse das. Es sei besser, Stellung zu beziehen und die Leute zum Nachdenken anzuregen. Man finde immer Wege, sich zu verteidigen. Trotzdem werde oft nicht zugehört. Laut Dioh falle es vielen schwer, sich in die Leben von anderen zu versetzen: «Wir haben eine Empathiekrise. Wir verlernen, einfühlsam zu sein.» Monteiro stimmt dem zu und verweist auf die Bedeutung der sozialen Medien und den schwindenden Stellenwert zwischenmenschlicher Beziehungen. Wichtiger werde, wie man sich darstellt, sowohl im Internet als auch in der Realität. «Wenn man jemandem Empathie entgegenbringen will, muss man zuhören», sagt sie.