Anna Rosenwasser auf der Bundeshausterrasse in Bern.

«Man muss nicht immer nützen»

Am 2. April erscheint «Herz», das zweite Buch von Anna Rosenwasser. Die Politikerin und Journalistin erzählt von Ansprüchen, unterdrückter Wut und weshalb Professionalität ein Konstrukt ist.

Nadja Lengert (Text) und Andri Gigerl (Foto)
10. April 2025

Anna, was hat dich als Letztes so richtig «hässig» gemacht? 
Mitzubekommen, wie unverhältnismässig die Polizei dieses Jahr gegen die feministische Demo am 8. März in Zürich vorgegangen ist. Dieses Vorgehen ist ein Zeichen, dass man sich von weiblicher und queerer Wut bedroht fühlt. Das ist berechtigt, denn diese Wut bedroht die herrschende Ordnung. So gesehen ist es eine Bestätigung unserer Macht, gegen die unverhältnismässig durch Polizeigewalt vorgegangen wird. Das hat mich sehr, sehr hässig gemacht. 

Du bist bekannt dafür, über die Emotion Wut zu sprechen. Sei es bei deinen Podiumsdiskussionen «Hässig am Mittwuch», in deiner Politik oder in deinem neuen Buch «Herz». Warum ist es so wichtig, über Wut zu sprechen?
Das ist wichtig, weil uns häufig kein gesunder Umgang damit beigebracht wird. Mit männlicher Sozialisierung geht einher, dass Wut als Aggression geäussert werden darf, aber nie als Form von Verletzlichkeit. Bei weiblicher Sozialisierung hingegen geht es darum, die Wut zu unterdrücken und sie nicht zu zeigen. Dadurch wird Wut abgewertet und nicht ernst genommen. Dabei ist sie aus psychologischer Sicht so wichtig: Sie zeigt uns auf, wenn unsere Grenzen überschritten werden. Wut ist auch ein wichtiger Antrieb, wenn es darum geht, sich zusammenzuschliessen, um Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und sich für Gutes einzusetzen. Wir müssen lernen, Wut zu spüren und sie als etwas Positives anzuerkennen. 

Wie erlebst du diese Ungerechtigkeit im Bundeshaus-Alltag? 
Viele Dinge, die ich in «Herz» geschrieben habe, fühlen sich sehr gewagt an und ich bin gespannt, wie das Buch bei den Leser*innen ankommt. Eine Sache ist, dass ich einige Männer beim Namen nenne. Sie sind etwa für Gewalt an ihren Partnerinnen und Ex-Partnerinnen oder Rassendiskriminierung verurteilt – und werden trotzdem wiedergewählt. Indem ich in meinem Buch darüber schreibe, gehe ich mit meiner Wut über diese Ungerechtigkeiten um. 

Hast du Tipps, wie wir mit Wut umgehen können? 
Das Wichtigste ist es, einordnen zu können, was uns widerfährt. Denn das ist ja sehr selten nur ein individuelles Erlebnis. In «Herz» baue ich auf dem feministischen Diskurs auf. Ein Slogan, der mich sehr leitet, ist «das Private ist politisch». Was uns passiert, passiert uns oft nicht einzeln und es passiert uns auch nicht, weil wir wir sind. Sondern unter anderem, weil wir Frauen sind. Das zu merken hilft uns, uns weniger schuldig zu fühlen bei den Dingen, die wir hinnehmen müssen.

Seit mehreren Jahren bist du auf Social Media präsent, seit den letzten Wahlen Nationalrätin für die SP und nun veröffentlichst du dein zweites Buch. Wie meisterst du all diese Aufgaben? 
Ich kann das nur, weil ich keinen Perfektionsanspruch an mich selbst habe. Ich orientiere mich hierbei gerne am «patriarchalen Mittelmass», das ich auch in «Herz» thematisiere. Etwas zu tun ist gut, sei es das politische Amt oder ein Buch zu schreiben. Sich an diesem Mittelmass zu orientieren, und nicht daran, fehlerfrei zu sein, hilft sehr. Ich nehme mir bewusst Auszeiten, um mir überhaupt den Platz zu geben, solche Gedanken zu entwickeln. Das ist aber natürlich ein Privileg und dessen bin ich mir bewusst. Ich möchte in «Herz» auch jenen Menschen eine Stimme geben, die nicht die gleichen Privilegien geniessen wie ich.

Hattest du auch Respekt davor, insbesondere als Nationalrätin, ein solch intimes und persönliches Buch zu veröffentlichen? 
Was wir als «professionell» und «seriös» wahrnehmen, ist keine absolute Wahrheit, sondern Teil eines patriarchal geprägten Konzepts. Diesem muss ich nicht folgen und darf kritisieren, was als professionell gilt und was nicht. Dass Unfehlbarkeit und Unverletzlichkeit als Stärke gelten, finde ich problematisch. Leute, die Macht haben, müssen offen sein für ihre eigene Fehlbarkeit. Nur so ist es möglich, dass wir Verantwortung für unser eigenes Handeln übernehmen. 

In «Herz» schreibst du über Überforderung und deine Wahl in den Nationalrat. Wie blickst du heute darauf zurück?
Zwei Dinge sind mir von dieser unerwarteten Wahl sehr geblieben. Das eine ist die bedingungslose Solidarität, die ich erfahren durfte, alleine schon am Wahlabend. Das andere habe ich erst einige Zeit nach der Wahl realisiert. Meine Bedenkzeit, ob ich die Wahl annehme, wurde von den deutschschweizer Medien zu einem Skandal gemacht, der mich noch heute aus der Fassung bringt. Eine junge, geoutete Frau mit jüdischem Nachnamen wird unerwartet und statistisch gesehen unmöglich für ein politisches Amt gewählt und die Medien empören sich über die Dreistigkeit, sich eine solche Entscheidung gut zu überlegen. Die Medienwelt und die Öffentlichkeit warten nur darauf, auf eine junge Frau mit Einfluss wütend zu sein. Wir hassen sie lieber, als sie zu lieben. Und wenn wir sie lieben, warten wir insgeheim auf ihr Scheitern. Das wurde mir bei der medialen Berichterstattung über meine Wahl sehr bewusst. 

Hast du Tipps für Menschen, die sich engagieren möchten, aber nicht wissen, wo sie anfangen ­sollen?
Starte nicht alleine ein Projekt, sondern schliesse dich existierenden Kollektiven an oder Gründe etwas Eigenes mit deinen Freund*innen. Politik findet nicht nur mit Blazer im Bundeshaus statt. Finde einen Ort, an dem du dich als Mensch aufgehoben fühlst. Wohlfühlen erhöht die Chance, dass du dich länger für das einsetzt, was dir am Herzen liegt. 

Wenn du «Herz» in einem Satz zusammenfassen müsstest, wie würde er lauten? 
Im Buch geht es darum, schlimme Sachen akzeptieren zu müssen und gleichzeitig die wahnsinnig schönen Dinge des Lebens zu sehen, für die es sich zu leben lohnt. 

Und warum muss das Buch im April bei uns allen auf die To-­Read-Liste? 
Ich erinnere mich sehr gut an das Gefühl in meiner Studienzeit, dass ich noch etwas erledigen sollte, während ich gerade einen schönen Moment geniesse. In «Herz» geht es genau darum: nicht immer nützen zu müssen und einzuordnen, wo diese Schuldgefühle herkommen. 

Anna Rosenwasser wurde 1990 in Schaffhausen geboren. Sie ist Politikerin, Journalistin und Aktivistin. Seit Oktober 2023 ist sie für die Sozialdemokratische Partei im Nationalrat. Ihr neues Buch «Herz» ist für 30 Franken in der Buchhandlung sec 52 erhältlich. Es erscheint am 2. April. Anna gibt in Basel, Bern, Luzern und Zürich je eine moderierte Buchtaufe, wo sie aus «Herz» vorliest und vom Entstehungsprozess erzählt.