Die Natur versichern
Früher wurden viele der Tiere im Zoo Zürich mit der Pille verhütet. Heute setzt man vermehrt auf eine geregelte Zucht. So soll die Artenvielfalt gesichert werden. Bringt dies die Tiere der Wildnis wieder näher?
Im Zoo Zürich leben rund 6500 Tiere, 400 verschiedener Arten. Sie haben keine natürlichen Feinde, Nahrung ist stets vorhanden und medizinische Versorgung sichert ihr Wohlergehen. Ohne Eingriffe in die Fortpflanzung führt das schnell zu einer Überpopulation. Die Kontrolle der Bestände ist deshalb Teil des zoologischen Alltags. Grundsätzlich habe der Zoo verschiedene Stellschrauben um die Tierpopulation zu regulieren, sagt Dominik Ryser, Kommunikationsleiter des Zoos Zürich: Die Verhinderung der Fortpflanzung etwa durch Verhütung, Sterilisation, Kastration oder Trennung der Geschlechter, die Abgabe von Tieren an andere Zoos und, falls notwendig, der Tod von Tieren.
Gorillas auf Antibabypille
Doch der Eingriff in die Reproduktionsfähigkeit hat Konsequenzen: Tiere verlieren eines ihrer grundlegendsten Bedürfnisse: die sexuelle Fortpflanzung. Besonders bei sozialen Arten beeinflusst Geburtenkontrolle das Verhalten und die Gruppendynamik. Ein weiteres Problem: Manche Verhütungsmethoden sind irreversibel. Grosskatzen etwa bleiben nach langfristiger Gabe hormoneller Mittel oft unfruchtbar. Auch ist der Wissenstransfer zwischen Generationen durch die ständige Verhütung unterbrochen. «Tiere lernen durch Beobachtung. Findet keine Aufzucht von Nachwuchs statt, fehlt ein Lerneffekt», sagt Ryser. «Darum setzen wir im Zoo Zürich zunehmend weniger auf Praktiken zur Verhinderung der Fortpflanzung.» Sterilisierte Tiere gibt es dennoch, etwa bei den Afrikanischen Zwergziegen. Aber auch das möchte man in Zukunft ändern. «Bei der kurz vor einem Wechsel stehenden Gorilla-Gruppe verhüten wir noch, weil wir im Rahmen des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms (EEP) momentan keine Zuchtempfehlung haben», sagt Ryser. Auch bei den Orang-Utans, den Roten Varis oder den Goldgelben Löwenäffchen wird noch immer punktuell hormonell verhütet. Auch bei den Seehunden werde die Pille zukünftig wieder zur Anwendung kommen. Früher habe man die Tiere aber noch viel grossflächiger an der Fortpflanzung gehindert. «Seit ungefähr zwei, drei Jahren befinden wir uns aber in einem Wechsel weg von der hormonellen Verhütung», sagt Ryser. Auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Zürich plädiert für ein Umdenken in den Verhütungspraktiken in Zoos. Die weit verbreitete Geburtenkontrolle verändere das Altersprofil der Populationen drastisch und führt langfristig zu einer Sammlung geriatrischer Tiere.
Die Forschenden argumentieren zudem, dass gezielte Tötungen das öffentliche Verständnis für den natürlichen Lebenszyklus von Tieren fördern. «Wir als Zoo Zürich stehen grundsätzlich hinter dieser Praxis», sagt Ryser. «Letztes Jahr haben wir zum Beispiel drei Erdmännchen aus der Gruppe entnommen und an die Hyänen verfüttert.» So werde der Tod zumindest in einen natürlichen Kreislauf eingebunden. Wo immer möglich, werden verstorbene Tiere an Raubtiere verfüttert – es sei denn, sie waren krank oder über längere Zeit medikamentös behandelt. Öffentlich darüber zu sprechen, sei dem Zoo Zürich wichtig. «Wir arbeiten daran, auch über das Thema der Populationskontrolle zu informieren.» Man wolle transparent kommunizieren, dass die Erhaltung bedrohter Arten einen pragmatischen Umgang mit dem Tod erfordert.
Das Tiersein wieder lernen müssen
«Es ist wichtig zu verstehen, dass wir hier im Zoo Artenschutz, nicht Tierschutz, betreiben», sagt Ryser. Dies bedeute, wenn der Zoo eine Entscheidung treffen müsse, dann stehe der Artenschutz über dem Tierschutz. Das heisse, im übergeordneten Kontext des Artenschutzes zähle nicht das Schicksal des Einzelnen, sondern das Überleben der Art. Dort sehe der Zoo auch seine Aufgabe: «In Zukunft sollen ausschliesslich gefährdete Arten gehalten werden», sagt Ryser. Das Ziel ist es, eine Reservepopulation als Versicherung für die gefährdeten Tiere in der Wildnis aufzubauen. Doch eine genetisch gesunde Zoopopulation sei dafür essenziell. Die Zuchtprogramme der EEPs werden von Koordinator*innen kontrolliert, die für jede Art festlegen, welche Tiere miteinander verpaart werden sollen. Ziel sei die langfristige Erhaltung einer vitalen Reservepopulation. Es werde genau reguliert, wie die Arten wachsen. Langfristig sollen diese «Versicherungspopulationen» wieder zurück in ihre «natürlichen» Lebensräume kommen. Laut Ryser komme die Auswilderung von Tieren aber nur dann in Frage, wenn die wilden Lebensräume der Tiere noch ausreichend erhalten sind, was vielerorts eine Problem darstellt. Eine Auswilderung sei zudem ein langer Prozess. Die im Zoo gehaltenen Tiere müssen für die Wildnis erst wieder vorbereitet werden. Deshalb werde es in der neuen Grosskatzenanlage beispielsweise eine Jagdseilbahn geben, die Raubkatzen dazu animieren soll, ihre natürlichen Instinkte zu trainieren. Das Fleisch wir einige Meter erhöht, in der Luft schweben und die Tiere zum jagen ermuntern. Ein Beispiel für die Aufwändigkeit von Wiederansiedlungen sind die Orang-Utans. Damit ein Jungtier zukünftig in seinem wilden Lebensraum überleben kann, muss es zuerst die Nahrungssuche, das Klettern, den Nestbau sowie das soziale Verhalten von seiner Mutter im Zoo erlernen. Bis ein Weibchen das erste Mal in der Wildnis ein Jungtier kriegen und somit zum Fortbestand der vom Aussterben bedrohten wilden Orang-Utan-Population beitragen kann, dauert es 15 Jahre. Das Wildsein wieder erlernen ist also zeitaufwändig.