Komplexität muss nicht elitär sein
Die Krise der Geisteswissenschaften wird medial heraufbeschworen. Wie die selbsternannten Verbündeten der «einfachen Leute» mit ihrer Rhetorik Gesellschaftskritik untergraben. Ein Kommentar.
«Unnütz», «pseudowissenschaftlich », «Steuerverschwendung» – alles Begriffe, die man in den Zeitungen liest, in den Parlamenten hört und mir manchmal durch den Kopf gehen, wenn es in der Philosophievorlesung wieder darum geht, ob wir Hände haben oder nicht. Die Diskussion über die Legitimation der Geisteswissenschaften befindet sich seit der Industrialisierung – mit der technische Innovation und wirtschaftliche Effizienz in den Fokus der Bildung rückten – in einer Art Endlosschleife. Heute, in den Nachwehen der Bologna-Reform, die für Effizienz und «Employability» steht, flammt die Debatte – auch dank fleissiger NZZ-Autor*innen – wieder auf. Die europäische Studienreform, die nach der Jahrtausendwende auch in der Schweiz eingeführt wurde, setzte sich mit der Einführung des Credit-Systems die Messbarkeit und Verkürzung des Studiums sowie internationale Vereinheitlichung zum Ziel. Geisteswissenschaften, die keine klassische Berufsausbildung bieten und deren Outputs selten messbar sind, stehen vermehrt unter Druck.
Mythos bekiffte Geschichtsstudis
Sebastian Bonhoeffer, Direktor des interdisziplinären Collegium Helveticum und Professor für theoretische Biologie an der ETH Zürich, sagt gegenüber der NZZ: «Es gibt in der universitären Ausbildung eine Gefahr übermässiger Spezialisierung und Verschulung. Studierende sind keine Rädchen, die man formt, damit sie sich passgenau in ein Getriebe einfügen. Man soll die Beurteilung des gesellschaftlichen Nutzens universitärer Ausbildung anhand von Zahlen nicht überbewerten. Was leicht messbar ist, muss nicht wesentlich sein, aber was wesentlich ist, ist häufig schwer messbar. Das trifft womöglich auf die Geisteswissenschaften mehr zu als auf die sogenannten exakten Wissenschaften.»
Bologna verdrängt zunehmend das Humboldtsche Bildungsideal, welches freie Selbstentfaltung des Individuums fordert: «Der wahre Zweck des Menschen [...] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.» So romantisiert das auch klingen mag: In Zeiten, in denen die Freiheit der Universitäten vermehrt politischem und medialem Druck ausgesetzt ist, und das holzhackerische Machen starker Männer nuancierten Debatten vorgezogen wird, gilt es, dieses Ideal ernst zu nehmen. Humboldt war die autoritäre Führung von Menschen stets suspekt: «Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern», schrieb er. «Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu thun, wenn er ihre Leitung erwartet und folgt.» In unsicheren Zeiten suchen Menschen Sicherheit bei autoritären Führer*innen, die einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Wohin eine solche Rhetorik führen kann und in Vergangenheit geführt hat, muss man nicht weiter erklären.
Die, die es am besten wissen sollten, haben es hoffentlich nicht schon wieder vergessen, denn Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc hält gegenüber der NZZ in vorbildlich quantifizierter Manier fest: «Bei fünfzehn Leuten im Geschichtsseminar ist im Minimum einer bekifft.» Nur bei Geisteswissenschaftler*innen, die an den angelsächsischen Elite-Unis abschliessen, könne man sich sicher sein, dass sie das Zeug zum «Premierminister oder Hedge-Fund-Manager » haben. Bei uns würden sie nur auf der Tasche der Arbeiterklasse rumhocken. Dabei genossen die Geisteswissenschaften in der Antike hohes Ansehen, konnten sich auch im Mittelalter, eng an die Kirche geknüpft, behaupten, und in der Renaissance stellten Humanist*innen den Menschen (zumindest, wer als «Mensch» galt) ins Zentrum des Denkens.
Mit der Aufklärung wurde die kritische Vernunft der Geisteswissenschaften zum Massstab aller Wissenschaften und stellte zugleich religiöse Dogmen in Frage. Im Zuge der Säkularisierung boten die Geisteswissenschaften neue Deutungsrahmen für Mensch, Kultur und Geschichte. Ihre Institutionalisierung im 19. Jahrhundert sollte nicht nur das Vakuum der Orientierung füllen, sondern im Kontext der Nationalstaatenbildung aus der (männlichen) Bevölkerung mündige Bürger machen.
Kritisches Denken birgt Gefahren
Dann die erste Krise: Die rasante Entwicklung der Natur- und Technikwissenschaften im 20. Jahrhundert führte zu einer stärkeren Förderung solcher Disziplinen – oft auf Kosten der Geisteswissenschaften. Gleichzeitig pickten sich die totalitären Führer dieser Zeit einzelne geisteswissenschaftliche Erkenntnisse heraus und verdrehten diese nach ihrem Gusto. Beispielsweise sahen die Nazis in Nietzsches «Übermenschen » nicht die Emanzipation von fremdbestimmten Werten, sondern setzten ihn mit der Idee der «arischen Herrenrasse» gleich. Parallel wandelte das sowjetische Regime Marx’ Idee einer vorübergehenden «Diktatur des Proletariats» in die Diktatur der kommunistischen Partei um. Die Geschichte zeigt: Die Geisteswissenschaft ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann sie das kritische Denken schulen, das in Schwarz-Weiss-Zeiten besonders gefragt wäre, andererseits wird sie zur ideologischen Indoktrination instrumentalisiert. Letzteres beklagen heutzutage «volksnahe» Politiker* innen wie Christoph Blocher als «Woke-Wahn», den die «pseudowissenschaftlichen Diktatoren», also die Hochschuldozierenden, verbreiten. Gender-, postkoloniale oder kritische Rassenforschung: alles Tinnitus in den Ohren der tapferen Ritter des Abendlandes. Wer schon nicht zum BIP beiträgt, soll unsere Traditionen aufrechterhalten und die Mythen unserer Nationalhelden weitererzählen.
Die Unis sind nicht das Problem
Doch wer wie SVP und FDP den Abbau von Geschichte zugunsten der MINT-Fächer im Lehrplan 21 vorangetrieben hat, darf sich nicht beklagen, wenn Tell und Winkelried keinen Platz mehr im Klassenzimmer finden Laut Christian Mathis, Professor für Didaktik der Geschichte an der PH Zürich, ist die Kürzung Folge eines politischen Entscheids: «Die vermeintlich nützlicheren MINT-Fächer sollen die Wirtschaft ankurbeln und mittels ‹Future Skills› die Probleme der Welt angehen.» Auffällig und zugleich erhellend ist, dass die Einordnung der vier Fachbereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik unter das Label MINT keiner strikt akademischen Logik folgt. Mathematik dient sowohl den Natur- als auch den Geisteswissenschaften als Grundlage, während historische Methoden ebenso in naturwissenschaftlichen Disziplinen Anwendung finden.
Die enge Verzahnung von Geistes- und Naturwissenschaften zeigt sich besonders in Bereichen wie den Umweltnaturwissenschaften oder der Informatik, wo etwa die Linguistik bedeutende Fortschritte ermöglicht. MINT reduziert sich so auf ein Schlagwort, das primär finanzielle Interessen dient. Gegen «intellektuelle Eliten» schiesst jedoch nicht nur die Neue Rechte, sondern auch die Alte Linke in der Person von SPPolitiker Rudolf Strahm: «Die gender-, colour- und klimaaktiven Leute, die von den Universitäten kommen und die Diversität bis zum Exzess betonen, merken in ihrer Meinungsblase nicht, dass man am Stammtisch des Turnvereins über sie spottet.»
Die Intellektuellen hätten kein Verständnis für die «echten Probleme » der «kleinen Leute». Das führe zum «Aufstand von unten», dem momentanen Rechtsruck. Wer wie Strahm ökonomische Prekarität von Rassismus und Sexismus trennt, verkennt, dass der «kleine Mann» weiblich, schwarz oder migrantisch sein kann, und gerade aufgrund dessen «echte Probleme» erfährt. Noch problematischer ist die Vorstellung, Wissen werde ausschliesslich an den Unis produziert und von oben herab dem «Volk» aufgesetzt. Aus «kleinen Leuten» wird das Bild des einfachen Arbeiters geschaffen, der den Kopf unten hält und ja nicht zu viel nörgelt.
Es waren jedoch gerade marginalisierte Gruppen, die in den 60ern auf die Strassen gingen, und so feministische Ökonomie oder postkoloniale Ansichten in die Universitäten brachten. Diese können sehr wohl komplex denken, und müssen dies auch, um intersektionalen Ungerechtigkeiten eine Stimme zu geben. Wessen «Blut wird vergossen, damit meine Augen sehen können?», fragte die feministische Erkenntnistheoretikerin Donna Haraway. Wenn die einen reden, müssen andere schweigen. Es scheint so, als ginge es bei der von der NZZ heraufbeschworenen «Krise der Geisteswissenschaften» nicht um sinkende Studizahlen, sondern um deutungshoheitliche Verlustängste. Die eigentliche Arroganz liegt darin, kritische Theorien als «intellektuelles Geschwafel» abzustempeln, sodass man sich nicht mit seiner Voreingenommenheit, oder noch schlimmer, mit seinem eigenen Privileg auseinandersetzen muss.