Dekanin Michaelowa vor dem Hauptgebäude der Universität Zürich.

«Ich erkenne keine Krise»

Die Geisteswissenschaften werden in den Medien regelmässig für tot erklärt: Sie hätten der Gesellschaft nichts zu bieten. Katharina Michaelowa, Dekanin der Philosophischen Fakultät, sieht es anders.

Gena Astner, Lea Schubarth (Interview) und Mark Blum (Foto)
27. Februar 2025

In den Medien ist immer wieder zu lesen, dass die Geisteswissenschaften in einer tiefen Krise stecken. Stimmt das ? 
Nein, unsere Geisteswissenschaften haben der Gesellschaft sehr viel Interessantes zu bieten, sie entwickeln sich sehr dynamisch und erfreuen sich auch international einer hohen Anerkennung. Es gibt aber offenbar bei vielen Menschen eine andere, festgefahrene Wahrnehmung, die nicht zur Realität passt. 

Das klingt nach Vorurteilen. Wie sehen diese aus? 
Oft weiss man vielleicht einfach nicht, was sich hinter diesen Fächern verbirgt. Das müssen wir besser vermitteln, auch damit Studierende das für sie geeignete Fach wählen können. Auch die Anforderungen werden zum Teil unterschätzt. Das erklärt die teils hohen Durchfallquoten in Fächern wie der Sinologie. Zudem wird oft unterschätzt, wie gut die Qualifi ationen der Geistesund Sozialwissenschaften auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wir haben viele kleine Fächer, die für bestimmte Nischen im Arbeitsmarkt sehr wichtig sind, an die aber so ohne weiteres die Wenigsten denken. So wissen vermutlich wenige Leute, dass man mit einem Phonetikstudium später die Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen unterstützen kann. Auch für Mittelalterarchäologie gibt es in der Schweiz nur einen Lehrstuhl, und der ist hier in Zürich. Als an der Fakultät vor Jahren einmal die Diskussion aufkam, diesen Lehrstuhl zu streichen, bekam die Universitätsleitung rund ein Dutzend Beschwerdebriefe von Denkmalpflegeämtern, weil diese Ausbildung für sie so wichtig ist. 

Und trotzdem hält sich dieses Bild, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften die Studierenden nicht zielführend ausbilden. 
Genau. Wer aber einen Blick auf die Statistiken wirft, weiss, dass das nicht stimmt. Obwohl wir in den meisten Fächern an der Uni keine unmittelbare Berufsausbildung anbieten. Ich glaube, dass es eine gewisse Balance zwischen Bildung und Ausbildung braucht. Dabei ist es gar nicht so leicht, diese Dinge voneinander zu trennen. Einerseits braucht man einen Wissenshintergrund, um Dinge einordnen zu können, was wir jetzt mal als Bildung bezeichnen wollen. Andererseits braucht es auch ein konkretes Know-how, um nachher in einem Job aktiv zu sein. Verschiedene Studiengänge gewichten das unterschiedlich – auch innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die breite Öffentlichkeit unterschätzt vielleicht, wie viele konkrete Skills in diesen Studiengängen gelehrt werden. Durch die Entwicklungen im Bereich Digitalisierung und KI können auch Fächer und Methoden ganz neu verknüpft werden. 

Kurz: Die Öffentlichkeit schätzt den Beitrag nicht, den die Geisteswissenschaft an die Gesellschaft leistet. 
Es scheint viele Missverständnisse zu geben: Einerseits in Bezug auf den direkten Nutzen, andererseits in Bezug auf den Kulturerhalt, aus dem die Gesellschaft lebt. Und schliesslich in Bezug auf das Bereithalten von Expertise, die dann zur Verfügung stehen muss, wenn beispielsweise plötzlich eine Krise auftritt, wie heute im Ukraine-Kontext. An vielen Orten hat man nach dem Mauerfall die Osteuropaforschung eingestellt. Man dachte, sie sei nun nicht mehr relevant. In Zürich sind wir heute heilfroh, dass wir unsere Osteuropaforschung aufrechterhalten haben. Oft wird heute auch behauptet, dass das Fach Geschichte weltfremd sei und sich nicht nach aussen richte. Dabei haben wir gerade in Zürich Historiker*innen wie Monika Dommann oder Jeronim Perovic, die zentrale Probleme der heutigen Zeit ansprechen und regelmässig in den Medien präsent sind. Nebenbei betreiben unsere Historiker* innen zusammen mit anderen Kolleg*innen aus den Geisteswissenschaften das Online-Magazin «Geschichte der Gegenwart», das zehntausende Menschen lesen, also über eine enorme Reichweite verfügt. 

Wie erklären Sie sich die teils starke Kritik aus journalistischen Kreisen, wenn man bedenkt, dass 90 Prozent selbst einen Abschluss in den Geistes- oder Sozialwissenschaften haben?
Es ist erstaunlich, aber vielleicht auch ein natürliches Problem. Leute aus unseren Fächern sind geübt darin, alles zu hinterfragen, auch sich selbst. Aber offensichtlich gibt es auch eine Gruppe von Leuten, die den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht gut gesinnt sind oder sich überhaupt nicht dafür interessieren. Dabei müsste sich gerade eine bürgerlich orientierte Person für Fragen wie den Kulturerhalt interessieren. Das ist etwas, das die Geisteswissenschaft eigentlich von Grund auf verkörpert. Daher ist es umso wichtiger, dass wir – unabhängig von Studierendenzahlen – besser kommunizieren, was wir in unseren Fächern eigentlich machen. 

Wie könnte man sichtbarer machen, was an der Uni passiert? 
Es gibt bereits zahlreiche gute Ansätze wie Abende der offenen Tür, Ringvorlesungen oder Vorstellungen in Schulen. Wir wollen dieser Frage in der Philosophischen Fakultät aber künftig noch mehr Aufmerksamkeit schenken. 

In Fächern wie Geschichte nehmen die Studierendenzahlen ab. Wie ist das zu erklären? 
Ein Grund ist, dass zusätzlich zum Hauptfach Allgemeine Geschichte heute neue spezialisierte Studiengänge besucht werden, wie zum Beispiel Wirtschaftsgeschichte. Wenn sich Studierende für neue Kombinationen oder Spezialisierungen innerhalb eines Fachs interessieren, heisst das nicht, dass sie sich weniger für Geschichte interessieren. Die Studierenden nutzen das diversifizierte Angebot, und das ist auch gewollt. Man muss daher aufpassen, wie man solche Statistiken interpretiert. Wenn man ein Narrativ belegen will, findet man immer irgendwelche Statistiken, die sich dafür heranziehen lassen. Da merkt man, wie wichtig es ist, Statistiken richtig lesen zu können. 

Die abnehmenden Studierendenzahlen werden als Argument dafür genutzt, die Geisteswissenschaften hätten keinen Sinn. Dabei nehmen diese laut ihnen doch nicht ab. 
Wenn man sich die Statistiken des Bundes zu den Zahlen anschaut, dann sieht man, dass diese in allen Fachbereichsgruppen gestiegen sind. Zwischen 1995 und 2005 sieht man einen grossen Anstieg in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Heute hat sich diese Zahl stabilisiert, aber eine Abnahme sehen wir nicht. Es kommt mir so vor, als könnten die Geistes- und Sozialwissenschaften es niemandem recht machen: Bei stabilen Zahlen wird das fehlende Wachstum bemängelt. Aber als während der Jahrtausendwende der Boom stattfand, hiess es immer: «Was sollen wir mit so vielen Geistesund Sozialwissenschaftler*innen?» 

Wie sind diese Zahlen denn zu bewerten? 
Grundsätzlich ist die Lage gut mit stabilen Zahlen. Normalerweise freut man sich in der Schweiz über Stabilität. Bei den Naturwissenschaften sieht es etwas anders aus. Da hat der Anstieg aber einfach später eingesetzt. Die Zahlen sind im Wesentlichen den Fächern angemessen. Ich erkenne kein Problem und keine Krise, weder anhand der Studierendenzahlen noch substanziell. 

Was haben Universitäten überhaupt für eine Aufgabe? 
Universitäten haben unmittelbar für die Gesellschaft hier in der Schweiz einen Mehrwert zu bieten. Sie müssen aber auch akademischen Nachwuchs generieren, der die internationale Wissenschaft voranbringt. Wenn wir hochrangige Forschungsbeiträge liefern, dann ist das ein gesamtgesellschaftlicher, über die Schweiz hinausgehender Beitrag. Indirekt trägt das aber auch wieder zum Renommee der Schweiz bei. Die dritte Ebene ist die Ausbildung: Universitäten müssen ihren Studierenden ein gehaltvolles Studium bieten. Das heisst für uns auch, dass wir ständig an neuen Studienangeboten arbeiten. 

Sind Geisteswissenschaften noch wichtig? 
Für die Gesellschaft brauchen wir einen ganzen Strauss an unterschiedlichen Kenntnissen, die mehr oder weniger konkret oder breit sein können. Gerade im Kontext von künstlicher Intelligenz und Desinformation ist es unglaublich wichtig, dass wir Menschen mit einem breiteren Horizont haben, die in der Lage sind Dinge einzuordnen, zu hinterfragen und zu prüfen. Wer einerseits in der Lage ist, technische Tools zu verstehen und andererseits weiss, wie mit Informationen umzugehen ist, kann diese Fähigkeiten verbinden und in der modernen Welt ein zentraler Brückenbauer sein.