Wenn der Wind sich erhebt
Ein Filmfestival an der ETH soll den Diskurs über Verantwortung in der Wissenschaft öffnen. Eine Diskussion über Naivität, Fortschritt und die eigene Standhaftigkeit.
Gilt Technologie als moralisch neutral? Besser natürlich oder künstlich? Dies sind vielleicht nicht gerade die Fragen, die man sich üblicherweise an einem späten Wochentagsabend stellt. Es sind aber genau diese Themen, die Anfang Dezember im Rahmen der «Debug Society» angeschnitten wurden. Zwischen dem 4. und 6. Dezember wurde der grüne Boden des CHN-Gebäudes der ETH in ein Kino umfunktioniert. Das Konzept und die Ausrüstung waren simpel: ein paar Stühle, ein Beamer mitsamt Leinwand, Popcorn, Getränke und drei Filme mit Fokus auf Technologie, Gesellschaft und Ethik. Am Donnerstagabend durfte eine kleine, aber vielfältige Gruppe von Zuschauer*innen in den japanischen Animationsfilm «The Wind Rises» eintauchen.
ETH-Studis diskutieren über Ethik
Der 2013 veröffentlichte Film beginnt mit farbigen, prächtigen Szenenbildern von Miyazaki, unterlegt mit Joe Hisaishis lebhafter Musik. Auch die Hauptfigur, Jiro Horikoshi, trägt zur heimeligen Stimmung bei – ein motivierter Ingenieurstudent mit Träumen, grösser als er selbst. Zu Beginn des Films trifft der junge Jiro auf ein Mädchen, das später seine Geliebte wird, und die beiden tauschen sich mit folgendem Zitat aus: «Le vent se lève. Il faut tenter de vivre!» (dt.: «Der Wind erhebt sich, wir müssen versuchen, zu leben!») Der Wind erhebt sich für Jiro tatsächlich und fegt ihn zuerst zur Universität und später ins Ingenieurbüro, wo er «schöne Flugzeuge entwerfen möchte».
Doch die Realität der Vorkriegszeit im japanischen Kaiserreich holt ihn ein: Seine Flugzeuge werden zu Kriegsmaschinen, seine Frau liegt krank im Sanatorium, und sein Land zerbröckelt vor seinen Augen. Seine Kampfjets mitsamt Piloten kehren nie von den Schauplätzen der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs zurück. Trotzdem beharrt der Film auf Jiros Menschlichkeit und naivem Optimismus. Der Schluss bleibt aber ambivalent: Trägt Jiro die Verantwortung für das Leiden und die Schäden, die seine Flugzeuge verursachten? War es richtig, dass er zu einer solchen Zeit seine Leidenschaft verfolgte? Was bedeutet es, während des Kriegs Wissenschaftler und Ingenieur zu sein?
Letztere Frage ist dem Feld der Ethik nicht unbekannt; man denke an die Grauen des NS-Regimes oder der Atombombenabwürfe. Sie ist aber von besonderer Relevanz für uns angehende Forscherinnen oder Ingenieurinnen, die an diesem Event an der ETH die Mehrheit des Publikums ausmachten. Anhand von Zetteln mit Diskussionsfragen wurden nach dem Film diverse Gespräche angeregt. Kritische Stimmen hinterfragten Jiros sturen Optimismus im Bau solcher Flugzeuge und wiesen auf die militärische Übermacht dieser Zeit hin. Andere wiederum unterstützten seine Leidenschaft und sahen den Eintritt des «Bösen» erst mit dem kriegerischen Einsatz der Jets. Trotzdem fühlten sich alle Beteiligten vom Diskurs über die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft angesprochen. Wenn man schon einem der weltweit führenden akademischen Forschungsinstitute angehört, muss man sich auch fragen, wofür das ganze Wissen verwendet wird – und ob dies mit dem eigenen moralischen Kompass übereinstimmt.
Blauäugigkeit oder Ignoranz
Um diese Verwendungsarten besser zu kontrollieren, bedürfte es Regulierungen zum Einsatz von Technologien wie Kampfjets – oder heutzutage auch der künstlichen Intelligenz. Regulierungen sind aber immer auch Einschränkungen, die die Freiheit beeinträchtigen können. Diese beeinträchtigte Freiheit, so plädierten einige in der Diskussion, würde den wissenschaftlichen Fortschritt erschweren. Es blieb also die Frage, wie viel Spielraum man der Forschung ermöglichen kann, ohne übermässige Risiken einzugehen. Eine mögliche Lösung, so ging der Diskurs weiter, wären zentralisiertere und global übereinstimmende Standards und Regeln zum Einsatz von gefährlichen Technologien. Jiros Darstellung als leidenschaftlicher Techniker mit einem positiven, fast schon ignoranten Weltbild legt für viele Zuschauer*innen den Finger in die Wunde.
Letztlich studieren die meisten aus Leidenschaft, erhoffen sich aber auch Rückenwind für ihre Karriere. Wenn der Wind aber so stark wird, dass er einen in eine Richtung fegt, die man lieber gemieden hätte, wäre man dann stark genug, um Widerstand zu leisten? Würde man ethisch handeln oder, wie Jiro, die Augen zudrücken und in der Traumwelt bleiben?