Ursachen bekämpfen statt Symptome lindern
Jung, ambitioniert, überarbeitet: Ein Drittel der Medizinstudis erwägt bis zum Ende des Studiums einen Berufswechsel.
Eine Ende 2023 publizierte Umfrage der Swiss Medical Students' Association (Swimsa) zeigt einen besorgniserregenden Trend unter Medizinstudierenden: Viele überlegen sich, nach dem Studium einer nichtärztlichen Tätigkeit nachzugehen. Ein Grossteil der Medizinstudis beginnt das Studium mit der klaren Motivation, später einen ärztlichen Beruf auszuüben. Die meisten Befragten begründen ihre Studienwahl damit, einer sinnstiftenden Tätigkeit im Umgang mit Menschen nachgehen zu wollen.
Laut den Umfrageergebnissen fühlen sich die meisten zu Beginn der klinischen Ausbildung in ihrer Studienwahl bestätigt. Doch schon im fünften und sechsten Jahr denkt mehr als ein Drittel über einen Abbruch oder einen anschliessenden Berufswechsel nach. Als Hauptgrund wurden die im Praktikumsjahr erlebten Arbeitsbedingungen genannt: zu lange Arbeitszeiten, zu viel administrative Arbeit und mangelnde Unterstützung seitens der Arbeitgebenden für flexible Arbeitszeitmodelle. Die im Spitalalltag vorherrschende Überlastung überrascht und überfordert viele; in den Spitalkursen bekommt man davon wenig mit.
Grundversorgung kommt zu kurz
Obwohl das Schweizer Arbeitsrecht eine 50-Stunden-Woche vorsieht, berichten viele Unterassistenzärztinnen von weitaus höheren Pensen. Die Swimsa fordert hier Änderungen, etwa die Reduzierung administrativer Aufgaben, die Verbesserung der digitalen Infrastruktur zur Entlastung der Ärztinnen und mehr Möglichkeiten für Teilzeitarbeit. Die meisten befragten Studierenden können von zahlreichen Situationen im Praktikumsjahr berichten, in denen sie aus Stress und Übermüdung nicht in der Lage waren, ihre Tätigkeiten verantwortungsvoll auszuführen.
Ein gängiges Argument in der Debatte um Arbeitszeiten lautet, dass Ärztinnen in Ausbildung die nötigen Fähigkeiten nur mit einem sehr hohen Kontingent an Wochenstunden erlernen können. Alternative Arbeitszeitmodelle, wie sie in Schweden erfolgreich eingeführt wurden, zeigen jedoch ein anderes Bild: Assistenzärztinnen mit reduzierten Wochenstunden lernen nicht weniger als ihre Schweizer Kolleg*innen. Die Bildungskommission des Fachvereins Medizin Zürich schlägt vor, dass die Uni bereits ab Beginn des Studiums einen besseren Einblick in den klinischen Alltag ermöglichen sollte. Man könne etwa die klinischen Kurse im dritten und vierten Studienjahr immersiver gestalten und den Austausch mit anderen Berufsgruppen aus der Grundversorgung fördern. So könnte auch der Übergang ins Praktikumsjahr erleichtert werden.
Für die Bildungskommission ist aber klar: Hauptverantwortlich für die Verunsicherung unter den Studierenden sind die unhaltbaren Zustände in den Spitälern. Werde dieser Umstand nicht bald adressiert, limitiere er die Bemühungen, mehr Ärzt*innen auszubilden. In den Spitälern verhindere finanzieller Druck, mehr Fachpersonen anzustellen, die für eine allgemeine Arbeitszeitreduktion und betriebliche Entlastung nötig seien. Personalmangel sei aber nicht immer das Problem. Auch die landesweite Aufteilung der Assistenzstellen sei hinderlich.
Viele würden nach dem Staatsexamen bewusst Fachgebiete wählen, die attraktivere Arbeitsbedingungen und einen besseren Lohn versprechen. Dies führe dazu, dass zu viele Spezialistinnen ausgebildet werden und sich zu wenige für die bereits unterbesetzte Grundversorgung im Spital oder in der Hausarztpraxis entscheiden. Auch zwischen den Kantonen werden die Neuankömmlinge ungleich verteilt. Zürcher Spitäler stellen tendenziell höhersemestrige Assistenzärztinnen ein, in den ländlichen Kantonen ist der Anteil an noch unerfahrenen Assistenzärzt*innen deutlich höher.
Bei zu vielen unerfahrenen Assistenzärztinnen werde es für die Oberärztinnen schwierig, mit den Einzelnen eine gute Mentoringbeziehung aufzubauen. Der Studierendenverein Clash Zürich, der sich gegen Sexismus im Medizinstudium einsetzt, betont die Verantwortung der Uni bei der Mitgestaltung der zukünftigen Arbeitswelt. Das Medizinstudium sei – stärker als andere Studiengänge – an ein bestimmtes Berufswesen gebunden und zwischen dem Studiengang und dessen angegliederten Einrichtungen bestehe ein wechselseitiger Einfluss. Strukturelle Probleme aus dem Spitalalltag, wie Sexismus, Rassismus oder hierarchisches Sozialverhalten, werden so bereits im Studium erlebt und später reproduziert.
Alternative zu Numerus Clausus
Der Verein und die Bildungskommission wünschen sich von der Fakultät und den Studierenden eine bessere Diskussionskultur. Die Uni solle auch für Medizinstudierende ein Ort sein, an dem bestehende Strukturen hinterfragt und zumindest unipolitische Angelegenheiten diskutiert werden. Wichtig sei auch, bereits im Studium Stressmanagement und Resilienz zu üben. Diese Fähigkeiten seien für den ärztlichen Beruf unabdingbar, kommen jedoch bisher im Lehrplan der medizinischen Fakultät nirgends vor.
Vor wenigen Wochen hat das Schweizer Parlament beschlossen, den NC für das Medizinstudium abzuschaffen. Ziel des Entscheids ist eine grundlegende Anpassung des Zulassungsverfahrens, um mehr Medizinstudis im Inland auszubilden. Als nächstes muss der Bundesrat einen Umsetzungsvorschlag machen.
Kritiker*innen argumentieren, dass die Abschaffung des NC allein nicht reicht. Die Anzahl der klinischen Ausbildungsplätze bleibt weiterhin begrenzt. Der Zürcher Kantonsrat hat zwar beschlossen, bis 2028 500 zusätzliche Studienplätze an der Uni Zürich zu schaffen. Doch viele Studis befürchten, dass die ersten beiden Studienjahre ohne eine Form der Aufnahmebegrenzung überfüllt und die Lehrqualität dadurch abnehmen wird. Eine grosse Anzahl Studis müsste ausgesiebt werden. Eine Alternative wäre ein gemischtes Verfahren, bestehend aus einer schriftlichen Prüfung und einem mehrmonatigen Spitalpraktikum. Das würde den Entscheid fürs Studium erleichtern – sowohl Studis als auch die Spitäler aber viel Zeit und Ressourcen kosten.