In Versuchung

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Marco Galeazzi (Text und Foto)
20. Februar 2025

Während wir früher beim Aperitivo unter der Pergola sassen, erzählte mir mein Grossvater gelegentlich davon, wie er als kleiner Junge, als er zu faul war, das Schlafzimmer zu verlassen, vom obersten Fenster des dritten Stocks bis hinunter in den Schweinestall urinierte. Damals reisten nur wenige Menschen durch das im Tessin abgelegene Pirla und er konnte, ohne Angst, von Fremden ertappt zu werden, seine Beschäftigung unbekümmert ausleben. Mit zusammengekniffenen Augen am verrosteten Tore stehend, versuchte ich mir manchmal die Flugbahn des Strahls vorzustellen und schien dabei eine Mischung aus kindlichem Gekicher und aufgeregtem Grunzen zu hören. Selbstverständlich überkam mich einst die Versuchung, das Tun meines Grossvaters nachzuahmen. Ich stand dann, ähnlich wie mein Grossvater damals, am offenen Fenster und schaute erwägend hinunter. Da der Bauernhof aber seit seiner Kindheit in ein rustikales Wohnhaus umgewandelt worden war, starrte ich nicht mehr auf einen Schweinestall, sondern auf den Garten und den Pool. 

Dort trieb meine Schwester auf einer Luftmatratze, die Augen geschlossen und ahnungslos von der Idee, die sich in meinem Kopf zusammenbraute. Es schien mir eine verlockende Möglichkeit, ihr unzählige Vergehen heimzuzahlen und gleichzeitig die Tradition meines Nonnos zu ehren. Ich begann, Faktoren wie Windgeschwindigkeit und Distanz zu berechnen, und testete die Metallstangen der Fenster auf ihre Widerstandsfähigkeit. Gerade als ich mich bereit fühlte loszulegen, spürte ich, wie eine grössere Kraft mich zurückhielt. Von der Pergola erreichte mich eine zurechtweisende Warnung, unanfechtbar und definitiv in ihrer Botschaft, durch den Blick meiner Mutter. Sofort wich ich erschrocken zurück, gab meine Pläne auf und gesellte mich im Garten unschuldig zu meiner Familie, als hätte ich nicht gerade mit einem katastrophalen Schicksal geflirtet.